Der Hirt am Altvater

Ein Schäfer hütete einst am mährischen Gesenke noch spät abends seine Herde. Als er schon nahe bei dem Dorfe war, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm seinen Namen: „Konrad!“ Voll Schrecken blickte er sich um und sah die Erde aufgetan. Aus der Öffnung kam einen weiße Gestalt mit einem großen, weißen Barte, der ihr bis auf den Leib herabhing. „Gib mir dein bestes Schaf,“ sprach die Gestalt, „du wirst es nicht bereuen und wirst erfahren, wer ich bin!“ Konrad weigerte sich zwar anfangs, doch endlich gab er das Verlangte. Da sprach der Greis: „Ich bin der mächtige Altvater, der oberste der Berggeister dieser Gegend. Da du mir dein bestes Schaf gegeben hast, so komm zu mir in mein Schloß, ich will dich in meine Schatzkammer führen und du kannst dir daraus etwas nehmen.“ Aus Furcht wagte der Schäfer anfangs kaum mitzugehen, doch seine Begierde nach Reichtum gab ihm bald Mut. Sie stiegen bis auf den Kamm des Gebirges, wo sich eine schöne Wiese ausbreitet. Als sie an die Tür des Zauberschlosses gekommen waren, tat sie sich durch einen Druck auf und Konrad sah goldene und andere kostbare Sachen. „Dieses Goldstück kannst du dir nehmen, aber nicht mehr, sonst ist es dein Unglück!“ Mit diesen Worten verschwand der Geist. Da sich nun der Schäfer allein sah und für unbemerkt hiert, nahm er nicht nur das bezeichnete Goldstück, sondern auch noch einen schweren goldnen Leuchter. Als er aber hinausgehen wollte, fand er keinen Ausweg mehr. Der Geist erschien ihm wieder und schwang mit zürnendem Angesicht seinen Zauberstab. Donner und Blitz folgten, die erschütterte Erde öffnete sich und verschlang den habsüchtigen Schäfer. Seitdem steht da, wo die schöne Wiese lag, ein Berg, der nach dem Berggeiste „Altvater“ genannt wird.

F. Kastner

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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