Der Kolomann-Stein
Zur Zeit des Markgrafen Heinrich, des ältesten Sohnes Leopolds des Erlauchten, wanderte ein junger Pilger durch das schöne Donautal. Sein lockiges Haupt deckte ein breiter Hut, die hohe Gestalt umwallte ein weiter Mantel und die Faust umfaßte einen wuchtigen Wanderstab. Der einsame Pilgrim war en fremder Königssohn, namens Koloman, den fromme Sehnsucht nach dem heiligen lande zog.
Viele Wochen war er unterwegs, über Land und Meer war er gereist und so hatte er das mauerumgürtete Stockerau erreicht, als die Nacht hereinbrach; er mußte Einlaß in das Städtchen begehren. Der Torwart öffnete die Pforte und wies den Jüngling in eine nahe Herberge. Das fremdartige Wesen und die unverständliche Sprache des Gastes erregten nicht wenig Aufsehen und bald war die Schenke von Neugierigen umlagert. Weil um jene Zeit unser Heimatland noch immer von feindlichen Horden bedroht war, steckten die ängstlichen Bürger die Köpfe zusammen; es erhob sich ein Gezischel, der Fremde sei ein Spion, der sich eingeschlichen habe, um das Städtlein auszukundschaften und an die Feinde zu verraten.
Der Verdacht wurde rasch verbreitet und kam auch dem Ortsrichter zu Ohren, der alsbald mit vier handfesten Knechten in der Schenke erschien. Wie erschrak der friedfertige Pilger, als sie ihn plötzlich ergriffen! Trotz aller Bitten und Beteuerungen fesselten sie ihn und schleppten ihn ins Gefängnis. In seinem Besitze fand der Richter einen nicht geringen Geldbetrag und Schriften, die niemand lesen konnte; das verstärkte den Verdacht gegen den fremden Pilger. Der arme Koloman konnte sich in der Landessprache nicht verständigen und darum keine Frage beantworten. Da hielt ihn der aufgebrachte Richter für verstockt; er ließ ihn foltern und grausam zu Tode martern. Auf einem Steine hauchte der fremde Pilgrim seine Seele aus. Die Knechte hängten den Leichnam auf einen dürren Baum am Ufer der Donau, damit ihn dort die Raben aufzehrten. Doch nur Singvögel so erzählten sich die Leute, sammelten sich in Schwärmen um den bleichen Leichnam und die dürren Äste begannen zu grünen und trieben durftige Blüten. Mit Staunen hörten und sahen es die Bürger und begannen zu zweifeln, ob der Fremde ein Spion gewesen; ja, der Wirt, der Koloman beherbergt hatte, grub ihm heimlich ein Grab. Als ein Jahr später die Gegend weitum durch eine Überschwemmung verwüstet wurde, blieb die Ruhestätte des Pilgrims allein unbeschädigt und war von lieblichen Blumen überdeckt.
Der Ruf solch seltsamer Ereignisse verbreitete sich im Lande und auch Markgraf Heinrich erfuhr davon. Er ließ das Grab Kolomans öffnen, um den Leib in geweihter Erde zu bestatten; und siehe, man fand den Leichnam völlig unversehrt.
Zur selben Zeit langte an der Donau Kolomans treuer Diener Gotthalm an. Von heißer Sorge erfüllt, war der dem geliebten Herrn unter unsäglichen Mühen nachgezogen. Als er die Kunde von dem Tode des Königssohnes erhielt, starb der treue Mann an gebrochenem Herzen. Tiefgerührt geleitete Heinrich selbst die beiden Leichname in feierlichem Zuge nach Melk. Dort ruhen Herr und Diener beisammen, Koloman und Gotthalm.
Der „Koloman-Stein“, auf dem der Prinz seine Seele ausgehaucht, befindet sich jetzt im Stephansdome in Wien.
Hans Fraungruber
Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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