Die Predigt am Lünersee in Vorarlberg
Zwei Hirten stehen auf steiler Höh’
Und blicken in die Welt,
Hoch oben, wo zum stillen See
Die Felswand niederfällt;
Und herrlich in die Flut hinein
Blickt gold’ner Morgenschein.
Und horch! ein liebliches Geläut
Ist leis heraufgedrungen,
Doch nimmer hat es noch wie heut
So hell und klar geklungen.
Das Glöcklein ruft die frommen Gäste
Zur Predigt am Marienfeste.
Der eine spricht: „Wie sanft und lieb
Klingt dieser Glockenklang!
Wie Heimweh zieht’s durch mein Gemüt,
Mir wird so schwer und bang.
Wir sollten doch am Festtag heute
Zur Predigt gehn wie andre Leute.“
Ich bleibe lieber, wo ich steh’,“
Lacht ihn der andre aus:
„Es sind ja Herren drin im See,
Komm einer doch heraus
Von jenen finsteren Gestalten,
Soll der die Sonntagspredigt halten!“
Kaum ist das frevle Wort verhallt,
Da rauscht es in dem See
Und eine finstere Gestalt
Taucht grausig in die Höh’,
Auf weißem Roß ein schwarzer Mann,
Er reitet an des Land heran.
Dem Frevler nahet die Gestalt,
Sie hebt die Hände in die Höh’
Und predigt daß es wiederhallt
Vom Felsen und vom See.
Und „Amen!“ gellt’s mit wilder Wut
Und der Reiter springt in die tiefe Flut.
Doch keiner vernahm aus des Hirten Mund,
Welch eine grausige Lehr’
Ihm mitgeteilt zu jener Stund’
Am Lünersee der Herr:
Er hat die Predigt, die er bekommen,
Gar bald mit sich ins Grab genommen.
Nach dem Volksmunde von Eugen Müller
Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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