Die Schwurwiese
Eine Stunde von Mariazell fällt dem Wanderer mitten im saftig grünen Gelände ein großer, heideartiger Fleck auf, den die Leute die Schwurwiese nennen und hiebei auf einen Steinblock weisen, der einem Menschen ähnelt, dessen Hand wie zum Schwur erhoben ist.
Vor alters her starb in dieser Gegend ein Bauer, der seinen Söhnen unter anderen Grundstücken auch diese Wiese vererbt, die zu den erträgnisreichsten des Gutes gehörte. Da der Vater kein ausdrückliches Testament hinterlassen hatte, kam es zwischen den Söhnen zu Zank und Haß. Auch um diese Wiese erhob sich ein heftiger Streit und die Ältesten des Dorfes wurden als Schiedsrichter angerufen. Da sie das Grundstück dem jüngeren Bruder zusprachen, begann der andere zu toben und zu lästern und erbot sich, einen heiligen Eid hierüber zu leisten, daß ihm der Vater diese Wiese in einer Unterredung besonders als Eigentum versprochen habe.
Die Richter nahmen das Anerbieten an. Sie begaben sich vor das Dorf und mitten auf der dem grünen Rasen erhob der Frevler seine Hand und schwur einen feierlichen Eid, trotzdem sein Bruder ihn heftig abmahnte, ja sich sogar erbot, auf das Grundstück freiwillig zu verzichten.
Kaum waren die letzten Worte des Eides verhallt, da erbleichte der falsche Erbe, sein Leib streckte sich und zum Entsetzen der Umstehenden verwandelte er sich in grauen Fels. Zur selben Stunde verdorrte das Gras und das Grundstück blieb wüst und unfruchtbar bis zum heutigen Tage.
Hans Fraungruber
Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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