Der Wildfrauenturm in Hinterberg

Nördlich vom Grimming breitet sich gegen das tote Gebirge hin ein walderfülltes Tal aus, das Hinterberg heißt. Dort ragt aus dunklen fichten in der Nähe von Mitterndorf eine malerische Felsgruppe empor, der Wildfrauenturm, auf dem die Saligen Fräuein ihr liebliches Wesen trieben. An sonnhellen Tagen wuschen sie ihre weiten, dunklen Gewänder im Bächlein und breiteten sie auf der Wiese zum Trocknen aus, oder sie saßen am Felsrande und sangen süße Weisen, die das Herz der lauschenden Jäger und Sennerinnen mit wehmütigem Entzücken füllten.

Gern halfen sie wohlgesinnten Menschen bei der Arbeit, indem sie während der Mittagspause auf den Acker kamen, Sicheln und Sensen ergriffen und munter das Getreide in Schwaden legten. Wenn die Schnitter wieder aus dem hause kamen, zogen sich die Wildfrauen zurück und nur ab und zu sahen die Mägde ein goldumflutetes zartes Antlitz scheu aus dem Grün des Forstes lugen.

Besonders gut waren die Saligen Fräulein den Kindern. Wenn ein Großmütterchen auf der Hausbank die Kleinen wartete und in der Schwüle des Sommers einzunicken begann, da schwebten die freundlichen Waldfrauen über den moosigen Plan, herzten und küßten die Kleinen und spielten mit ihnen. Jauchzte dann ein pausbäckiges Dirnlein oder ein frischer Bub in heller Lust, wußten sich die anmutigen Gespielinnen vor Freude nicht zu fassen. Aber das alte Mütterlein durfte die Augen nicht öffnen; erwachte es und rieb sich die erstaunten Augen, husch, flohen die Wildfrauen in ihre Einsamkeit davon.

Heute sieht man die lieblichen Gestalten nicht mehr.

Hans Fraungruber

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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