Das steinerne Brot

Nicht weit von der freundlichen Stadt St. Pölten am Traisenflusse liegt das uralte Statzendorf.

Dort, wo der Bach den Ort verläßt, stand vormals eine stattliche Mühle, deren Herrin Regina wegen ihres Geizes in der ganzen Gegend mißachtet wurde. Als man ihren Mann zu Grabe geleitet hatte, munkelten die Leute, er sei Hungers gestorben. Das böse Gerücht focht die Müllerin nicht an; sie verabschiedete das Gesinde, verpachtete ihre ausgedehnten Gründe, behielt nur eine Kuh und ein paar Schweine im Stalle und ließ in der Mühle einen alten, im Hofe müde und grau gewordenen Knecht werken.

Bald hatte der Alte nichts mehr zu tun, denn die Mühle war in Verruf gekommen. Zudem gab es schrecklichen Mißwachs, der Elend und Hungersnot im Gefolge führte. Davon wurde Statzendorf  recht hart betroffen.

Frau Regina entließ nun ihren letzten Knecht, ohne sich um seine Klagen zu kümmern, und trieb mit hartherziger Strenge ihre Pachtgelder ein, denn das Recht war ja auf ihrer Seite. Wenn sie dann allein in ihrem vereinsamten Zimmer saß, ließ sie die Taler klingen und springen und freute sich am schönen Silberglanze. Dann stieg sie in die Vorratskammern und beschaute auch hier voll Behagen ihre Schätze, die Schinken und Rauchwürste, die Truhen voll Mehl und sonstigen Genüssen, im Keller die schönen, bauchigen Fässer voll Wein, und lachte dabei herzlich bei dem Gedanken, dies alles könne sie jetzt aleein essen, sie brauche keinen unnützen Zecher mehr den Magen zu füllen.

Eines Tages klopfte es an der Stubentür. Als Frau Regina öffnete, stand ein alter, gebrechlicher Mann vor ihr, den sie mit unfreundlichen Blicken musterte.

Du bist es, Bruder Kaspar – was willst du von mir?“

Dem Greise, dem das Silberhaar in dünnen Strähnen auf die Schläfen hing, zitterte der Stock in der Welken Hand.

Endlich faßte er sich ein Herz. „Warum ich kommen bin, leicht kannst du dir’s denken, Regina. Mir drückt’s das Herz ab, wenn ich schau’n muß, wie meine Leut’ hungern und ich kann nicht helfen. Ilf mir, Regina, du kannst es, ich weiß es.“

Die Müllerin hatte den Spinnrocken an sich herangezogen und zu spinnen begonnen. Es schien, als hätte sie mit dem Schnurren des Rades alles andere, was ihr unangenehm zu hören war, übertäuben wollen. So saß der Arme und wartete der Antwort, aber erbarmungslos schnurrte das Rad durch die Stille der Stube.

Endlich unterbrach die harte Frau ihre Arbeit und schlug die Hände zusammen. „Was glaubst du von mir? Seit mein Mann tot ist, steht die Mühle still und ich habe weder Verdienst noch Geld. Ich kann dir also nichts geben.“ Schnurrend flog wieder das Rad und Regina blickte auf den Faden, als wäre sonst niemand mehr in der Stube. Kaspar richtete sich mühselig auf, griff nach Stock und Hut und schritt wankend zur Tür. Als er in die Öffnung trat, rief er mit bebender Stimme: „Ich hab’s nicht geglaubt, daß du so unmenschlich sein kannst. Aber jetzt weiß ich’s. Merk’s dir, Regina, der liebe Gott wird dir einmal schwer heimzahlen, daß du so hart sein kannst!“ Er schloß die Tür und wnakte mit tiefem Leid im Herzen zu den Seinen heim.

Die Müllerin erhob sich, als wäre nichts vorgefallen und ging in die Speisekammer, aus der sie einen Laib Brot holte und ein Würstlein dazu. Sie schnitt die leckere Speise in dünne Scheiben, und als sie damit fertig war, ergriff sie den Laib und wollte ihn anschneiden. Da klopfte es abermals.

„Ist denn heut keine Ruh? Was wird’s denn wieder sein?“ Aufgebracht schob sie den Teller mit der Wurst in die Tischlade, ließ jedoch das Brot auf dem Tische liegen. Dann öffnete sie die Tür. Ein Bettler stand davor. Er sah genau so aus wie Kaspar, der vor wenigen Minuten das Zimmer verlassen hatte. Regina meinte auch, daß es ihr Bruder sei, der nochmals zurückgekommen. „Bist du schon wieder da?“ schrie sie voll Zorn. „Ich hab’ nichts für dich! Zudringliches Bettlervolk!“

„Ein Stück Brot gib mir, hab’ Erbarmen!“ wimmerte der Alte kläglich.

„Nein und tausendmal nein! Ich hab’ nichts und geb’ nichts! Scher dich zum Kuckuck!“

Da richtete sich die gekrümmte Gestalt des Bettlers hoch auf, daß Regina jäh zurückwich. Mit einem Male war die Gestalt mächtig verändert. Die Züge ihres Bruders waren verschwunden, Gott selbst stand vor ihr und rief mit zürnender Stimme: „Weil du kein Erbarmen kennst und gefühllos bist, so sei dein Brot hart wie dein Herz, so hart wie Stein!“ Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung.

Tiefes Entsetzen hatte Regina ergriffen. Sie wankte an den Tisch zurück. Unwillkürlich griff sie an den Laib. Er war hart wie Stein. Da tat sie einen fürchterlichen aufschrei; dann sprang sie zur Tür, riß sie auf und wollte dem Bettler nacheile. So weit sie blickte, er war nicht mehr zu erspähen. Nach ihrem Bruder sah sie aus, auch er war verschwunden. An allen Gleidern zitternd, kehrte die Verwünschte ins Haus zurück.

Als sie an der Vorratskammer vorüberging und einen Blick hineinwarf, war alles daraus verschwunden, nicht das kleinste Korn konnte sie finden und im Keller standen die Fässer leer, als wäre niemals auch nur ein Tropfen darin gewesen. Und als sie die Truhe öffnete, wo sie ihre lieben blitzenden Taler verschlossen gehalten, hähnte ihr eine fürchterliche Leere entgegen. Auch nicht der geringste Groschen wollte sich finden. Nur auf dem Tische in der Stube lag der Laib Brot vor ihr, unverändert wie sonst, aber hart und schwer wie Stein. Da brach sie weinend zusammen, schlug reuevoll die Hände vor das Gesicht und weinte, daß die Tränen zwischen den Fingern hervorbrachen. So lag sie den ganzen Abend und die ganze Nacht. Als der Morgen ins Fenster schien, war sie zu einem Entschlusse gekommen. Sie hatte ehedem viel von der Wundertätigkeit der St. Stephanskirche in Wien vernommen; dorthin wollte sie nun pilgern und um Gnade flehen. Sie verschloß ihr Haus und wanderte still und gebrochen dahin. Von Dorf zu Dorf zog sie und mußte bettelnd um ihres Lebens Notdurft flehen.

Als sie endlich Wien erreicht und vor dem Riesentor des neuen Domes stand, da war ihr Herz ganz umgewandelt und sie erkannte mit Schrecken, wie schlecht sie gewesen und wie schwer sie sich gegen Gott und ihre Mitmenschen vergangen hatte. Mit zerknirschtem Herzen bekannte sie dem Priester ihre Schuld.

Aber dieser wies die Fluchbeladene, die Gottes Zorn sichtbar getroffen, aus dem Gotteshause. Vor dem Tore möge sie stehen alle Tage und beten, daß der Herr ihr die Schuld verzeihe. So lange müsse sie büßen, bis ihr Gott ein Zeichen sende, das ihr seine Gnade verkünde. Und so stand die einstens so stolze und hochmütige Frau als Büßerin vor dem Tore und betete und flehte. Alle Tage stand sie dort, ob es regnete oder stürmte, bei Sonnenschein und Schneegestöber. Um nicht zu verhungern, mußte sie demütig um Almosen betteln. Wenn der Kirchendiener frühmorgens das mächtige Gittertor aufgesperrt hatte, dann öffnete Regina die Torflügel und befestigte sie an der Steinwand der Vorhalle. So stand sie ein Jahr als Büßerin vor dem Dome, da gewahrte sie eines Tages, daß dort, wo sie alle Morgen das Tor befestigte, ein Kreis in den Stein eingegraben sei und dieser hatte dieselbe Größe wie jener Laib Brot, der ihr einstens zu Stein geworden. Ihn hatte der eiserne Haken im Laufe der Zeit ins Gestein gerieben. Ob dies das Zeichen Gottes sei? Die Aufrichtigkeit ihrer Buße hatte den Priester, dem sie davon erzählte, tief gerührt. Er segnete sie und entließ sie wieder nach Hause.

Frohen Herzens trat sie ihre Wanderung wieder an. Endlich stand sie vor ihrem lieben Dörflein und durchschritt die lange Häuserzeile. Merkwürdig, die Leute, die sie dereinstens gar nicht angesehen hatten grüßten sie nun freundlich, Kinder rannten ihr zu und boten ihr die zarte Hand. Da ergriff sie tiefe Rührung. So kam sie an ihr Haus, und siehe, es hatte sich nicht verädnert. Schmuck und tadellos stand es da, und als sie in die Stube trat, da lag wohl der Laib Brot noch hart wie Stein, aber ihre Kammer war wieder gefüllt wie zuvor und die Truhe stand gefüllt mit den Talern und im Keller roch es wieder gar köstlich nach Wein.

Wie sie nun fast starr vor Verwunderung dastand, öffnete sich leise die Tür und in die Stube trat wieder ihr Bruder Kaspar. Aber ganz anders als vor einem Jahre sah er heute aus. Seine Gestalt war aufgerichtet, frisch blitzten die Augen und froh klang die Stimme, die ihr an das Ohr tönte:

„Gott zum Gruß, Regina! Jetzt bin ich wieder gesund und es fehlt mir und meinen Leuten nichts mehr. Ich dank dir vielmals, daß du uns so reich geholfen hast. Mein Weib hat erzählt, wie du alle Tage Speisen und Geld gebracht, derweil ich krank im Fieber gelegen bin und niemand erkannt hab’. Gott lohn es dir, gute Schwester!“

Bebend am ganzen Leib hatte Regina den Worten gelauscht. „Ich wär bei dir gewesen? Ich hab ja …“

„Freilich, freilich,“ fiel ihr der Bruder ins Wort, „du warst es und niemand anders. Gut hast es machen wollen, daß du mich damals so traurig hast fortgehen lassen.“

Da erkannte Regina, daß ihr der liebe Gott verziehen hatte; sie wußte nun, daß er alles für sie getan, indes sie vor der Kirchentür ihre Buße tat. Nun erklärte sie sich auch die freundlichen Grüße im Dorfe. Tief ergriffen sprach sie: „Komm ganz zu mir, lieber Kaspar, mein Hof ist mir ohnehin viel zu groß. Da kannst du nun  ohne Sorgen werken und deine Kinder zu braven Menschen erziehen. Jetzt sollen endlich Freude und Frohsinn bei mir einkehren und ich will glücklich sein in eurem Glück.“

Und so geschah es auch. Frau Regina hielt ihr Wort; sie wendete nun all ihren Reichtum zu Wohltaten für ihre Mitmenschen an, die sie in warmen Dankgebeten segneten.

Den steinernen Laib Brot aber spendete sie dem Kirchlein von Statzendorf, wo er noch heute in einem schönen, sogenannten Sakramentshäuschen aufbewahrt sein soll, um als warnendes Zeichen allen jenen zu dienen, die für das Leid ihrer Mitmenschen kein mitfühlendes Herz besitzen.

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein, Hans Fraungruber, Wien, Stuttgart, Leipzig 1911
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Dezember 2006.
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