Das Berghaus auf der Schlappereben

Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte man auf der Schlapperben im hinteren Naßfeld bei Gastein in recht heißen Sommern, wenn das Eis stark abgeschmolzen war, den aus dem Eise herausragenden Schornstein eines Knappenhauses wahrnehmen. Es war der letzte Rest eines einst blühenden Bergbaus. Über sein Ende geht folgende Sage.

An einem Feierabend waren alle Knappen im behaglichen Hause versammelt und genossen die Ruhe des Abends. Da donnerte eine Lawine zu Tal und begrub das ganze Haus mit allem, was darinnen war. Schneestürme wehten unendlichen Schnee auf die lebendig Begrabenen, so dass auch von außen niemand Rettung bringen konnte. Zwölf Bergleute saßen nun in der Nacht, die ihre letzte schien, denn jeder Versuch, sich durchzuschaufeln, war misslungen. Bald gesellte sich ein neuer Gast zu ihnen, ein schlimmer Geselle, der Hunger. Trotz größter Sparsamkeit waren die Vorräte aufgezehrt; schon gruben Hunger und Todesangst Furchen in die Ge­sichter und verstört irrte ihr Blick zur Erde. Nur Seufzer unter­brachen noch dann und wann dieses tödliche Schweigen.

Da rafft sich der Hutmann zu einem verzweifelten Vorschlag auf: das Los soll entscheiden, wer zuerst sterben müsse, um den anderen als Speise zu dienen. Mit Entsetzen hören die Knappen seine Worte, aber der Hunger ließ jedes menschliche Gefühl erstarren. Sie greifen nach den Würfeln, sie werfen, das Los fällt auf den Bergschmied. Wie Pfeile treffen ihn die Blicke der Kameraden. Wenngleich manchen das Mitleid erfasst, es wird doch durch den Hunger wieder verscheucht. Der junge Bergschmied sieht sein Ende vor sich und erbittet sich nur noch eine Stunde Frist, seine Seele Gott zu empfehlen.

Um ganz allein zu sein, geht er hinein in den Stollen, an den das Berghaus angebaut war, wo er so oft eingefahren und immer wieder glücklich zurückgekehrt war. In Demut wirft er sich vor Gott auf die Knie und betet, es möge der Herr sein Schicksal in die Hand nehmen, denn von den Gesellen war auf keine Schonung zu rechnen. Schon will er sich erheben und in Ergebung den Kameraden zum Opfer stellen, da hört er das Rieseln der Quelle, die aus dem Stollen kommt und als kleines Bächlein im Schnee verrinnt. Da kommt ihm ein rettender Gedanke. Wie, wenn das Wasser sich einen Gang gegraben hätte, in dem Platz wäre, hindurchzuschliefen. Rasch entschlossen, legt er den Rock ab, wirft sich in das Wasser und arbeitet sich hinein in den kalten schmalen Gang, der noch Raum zum Atmen gibt und, wie auch das nicht mehr möglich ist, taucht er unter und windet sich wie ein Aal nach abwärts. Als schon die letzten Kräfte zu schwinden drohen, da fühlt er, wie es heller wird, und mit dem letzten Aufgebot des Lebenswillens erreicht er das Tageslicht. Wie vom Tode erstanden erblickt er die Außenwelt in ihrer Pracht: in unendlicher Dankbarkeit wirft er sich vor seinem Schöpfer nieder zu kurzem Gebet.

In Eile aber stürzt er dann hinab ins Tal, um seiner Mutter von der Errettung Kunde zu bringen. Nur Augenblicke vergönnt er sich in ihren Armen, dann eilt er fort, die Knappen im Tale aufzubieten, den Begrabenen Rettung zu bringen. Eine ganze Schar beherzten Bergvolkes führt er zur Höhe. Rastlos arbeiten sie sich durch den Gang, den das Wasser gegraben, und erreichen den Stollen. Doch zu spät. Der freudige Ruf des Retters verhallt im leeren Hause; die Zurückgebliebenen waren verhungert.

Aus „Gasteiner Sagen" zusammengestellt von Karl O. Wagner, Verlag Karl Krauth, Bad Gastein.

Quelle: Paul Ippen, Denk- und Merkwürdiges aus dem österreichischen Bergbau, Wien 1965, S. 7 - 8.
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