59. [Das Tragerl]

In Nied. Österreich sind die Alraunen oder Araunen, welche vom Volke häufig Uraundln genannt werden, ganz kleine höchstens zwei Zoll große Geschöpfe, welche vom Teufel und einer guten Zauberin Namens Alraune abstammen. Vermöge dieser zweifachen Abstammung ist auch ihre Wirksamkeit eine zweifache, eine gute und eine böse. Da sie den Teufel zum Vater haben, so sind sie einerseits ränkevoll und den Menschen schädlich, sie verstecken allerlei Geräthe und setzen sich auf dieselben, sind aber dabei unsichtbar; wenn man daher etwas nicht findet, so pflegt man zu sagen: „Darauf sitzt gewiß ein Uraundl.“ Als böse Geschöpfe quälen sie auch das Vieh, machen es krank und verursachen oft, daß die Kühe keine Milch geben. Gegen diese schädlichen Wirkungen helfen nur geweihte Dinge, hauptsächlich Weihwasser.

Weil die Alraunen aber eine gute Zauberin zur Mutter haben, so ist auch ihre Wirksamkeit andererseits eine wohlthätige, und in diesem Sinne nennt sie das Volk „Trägerin“, weil sie tragen oder bringen und zwar was ihr Besitzer verlangt, es sei nun Geld oder etwas anderes. Die Trägerin sind auch im Stande die tiefsten Geheimnisse zu erforschen und ihrem Eigentümer mitzutheilen, denn sie sprechen, essen und trinken ganz wie Menschen; die Nahrung muß ihnen der Besitzer geben und zwar von allem was er ißt. Die Trägerin müßen an einem geheimen Ort in einer Schachtel oder Flasche aufbewart werden, denn wenn sie jemand außer dem rechtmäßigen Eigentümer sieht, so wird alles, was sie bisher gebracht haben, zu Wasser. Wenn man ein Tragerl in die Tasche steckt, so sieht man alles, was man sehen will; man kann sich unsichtbar machen und in einem Augenblicke überall hintragen lassen Wegen dieser vorzüglichen Eigenschaften der Trägerin hat es immer genug Leute gegeben, welche sich bemühten ein solches zu bekommen.

Es gibt (nach dem Volksglauben) eine Pflanze, die man Fonich nennt. Sie kommt sehr selten vor und hat die Eigenschaft, daß sie nur um zwölf Uhr in der Christnacht blüht und ein Samenkorn trägt, welches ein Tragerl ist; um nun dieses zu bekommen, muß man einen Kirchenkelch darunter halten und es darin nach Hause tragen. Einmal faßten in einem Dorfe der Schullehrer, der Küster und ein Bauer den Entschluß ein Tragerl zu suchen und es gemeinschaftlich zu benützen, denn der Bauer war so glücklich gewesen, im Walde eine Fonichpflanze zu entdecken. In der Christnacht stal der Küster den Kelch und die drei Bösewichte machten sich auf, die Pflanze zu suchen. Der Bauer hatte den Weg bezeichnet und sie fanden die Pflanze mit Leichtigkeit; der Schullehrer machte einen Kreis um dieselbe und alle drei stellten sich in denselben; kaum war das geschehen, so kam der Teufel mit bösen Geistern und wollte die drei zerreißen, aber der Kreis hielt ihn zurück; endlich blühte die wunderbare Pflanze und aus der Blüte rollte das Tragerl heraus; der Küster hielt schnell den Kelch unter und fieng es auf. Der Teufel stampfte vor Wuth und verschwand. Nun giengen die drei Abenteurer ganz guter Dinge nach Hause; der Teufel nahm aber die Gestalt des Pfarrers an, begegnete ihnen und sprach: Ich weiß wo ihr wäret, wenn ihr mir jetzt das Tragerl nicht auf der Stelle zeigt, so sage ich es dem Richter und ihr hängt morgen alle drei. Die erschrockenen zeigten es dem vermeintlichen Pfarrer, welcher in den Kelch blies, so daß das Tragerl herausflog und unter gräßlichem Gelächter verschwand. Jetzt erst erkannten die geteuschten, daß es der Teufel gewesen, und sie giengen betrübt und ohne Tragerl nach Hause.1)

1) Über die Koboltnatur des alrûn hat auch Kuhn, nordd. Sag. S. 423, eine Mitth.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 258f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, April 2005.