22. [Die Springwurzel]

Um in einen Schatzberg zu gelangen, bedarf es einer wegbahnenden thürsprengenden Pflanze oder Wurzel (Grimm M. 923 ff.). Um die Springwurzel zu erlangen, muß man das Nest eines Wiedehopfs oder Grünspechts mit einem Holz zuschlagen. Sobald der herbeifliegende Vogel dieß bemerkt, fliegt er so schnell als möglich fort, um die Wurzel aufzusuchen, welche noch kein Mensch aufgefunden hat. Nachdem er dieselbe gebracht, kann er sein Nest damit öffnen, indem er sie vor den Holzkeil hält. Dieser springt dann so schnell heraus, als wenn er vom stärksten Schlage getrieben würde. Wer nun die Wurzel erlangen will, hält sich versteckt, und breitet ein rothes oder weißes Tuch unter dem Baume aus. Wenn dann der Vogel mit der Wurzel im Schnabel kommt, und das Nest öffnen will, so macht man einen Lärm. Der Vogel erschrickt und läßt die Wurzel aus dem Schnabel fallen. Mit einer solchen Springwurzel vermag man alles zu öffnen, auch wenn es noch so stark verschlossen wäre.

Einst hütete ein Schäfer seine Herde. Da stund, als er sich plötzlich umwandte, ein prächtiges Königsfräulein vor ihm und sprach: nimm die Springwurzel und folge mir nach. Der Hirt nahm die Springwurzel, überließ seine Schafe einem andern, und folgte dem Fräulein. Sie führte ihn in eine Höhle in den nahe gelegenen Berg hinein. Hier kamen sie zu einer Thür, die verschlossen war. Er muste seine Wurzel vorhalten und alsbald sprang die Thür krachend auf. Sie giengen immer weiter vorwärts, bis sie etwa in die Mitte des Berges gelangten. Hier saßen noch zwei solcher Jungfern und spannen emsig. Der böse Geist war auch da, aber machtlos, denn er war unten an dem Tische festgebunden, an welchem die beiden Fräulein saßen. Ringsum waren in Körben Gold und leuchtende Edelsteine aufgehäuft; die Königstochter sprach zu dem Hirten, der da stund und die Schätze anlusterte: nimm dir so viel du willst. Ohne sich lange mahnen zu lassen, griff er hinein, und füllte seine Taschen so viel sie halten konnten. Und wie er also reich beladen wieder hinaus wollte, sprach sie: aber vergiß nur das beste nicht! Er meinte, er solle mehr von den Schätzen nehmen; sie meinte aber die Springwurzel, die er auf dem Tische liegen ließ. Wie er nun hinaus trat, ohne die Wurzel, schlug das Thor mit großem Krach hinter ihm zu.

Die Schätze brachte er glücklich nach Haus, aber den Eingang konnte er nicht wieder finden.1)

1) Vergl. Kuhn nordd. S. Nr. 200, 2. Sollte der "böse Geist" die dritte der Nornen sein? Ist das Königsfräulein die Frau Holde? (Grimm Myth. 249.)

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 140f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.