3. [Geschichtliche und mythologische Bemerkungen]

An den Mythenkreis des Brünnleins lehnt sich nur ein legendischer Zug. Manche wollen nämlich auf dem "Wunderbaume" beim Brünnlein ein Marienbild mit dem Jesuskinde gesehen haben. Weil aber die Menschen so zahlreich hinströmten und manchen Unfug trieben, habe die Polizei den Baum umhauen lassen, aber das Jungfernbrünnlein blieb dennoch das Ziel der Wanderung. In katholischen Ländern treffen wir eine Menge Volksüberlieferungen, die sich auf die Erscheinung eines Marienbildes an einem Baume beziehen, wie wir denn häufig solche Bilder an Bäumen befestigt finden. Ein Brunnen steht immer damit in Verbindung; wir erinnern nur an die Legenden, die über das an Maria Geburt von vielen tausenden besuchte Maria Brunn (bei Wien) im Umlaufe sind, an die Entstehung vieler Wallfahrtsorte etc.

Ein Jungfernbrünnlein ist auch im Kanton Zug, bei der Langrüti (Gemeinde Hünenberg). Siehe ferner Panzer bair. Sagen 1. 105, 159.

Das erscheinen der Bilder an Bäumen ist uralt. Wir verweisen über diesen Gegenstand auf das Werk K. Böttichers "Baumcultus der Hellenen", Seite 140 fg. sagt er: "Bei den Hellenen wurden gewisse Götterbilder unmittelbar im Baume aufgestellt; nach der Weihe des Bildes unter oder an dem Baume war der nächste Schritt die Gründung einer aedicula , eines Tempelchens, in welchem man das Bild aufstellte."

Wir bemerken ferner, daß an den berühmten Cultusstätten der Hellenen (Delphi etc.) donaria, Weihegeschenke, niedergelegt wurden (Bötticher S. 156)

In welch hohem Ansehn Wälder und Bäume bei den Deutschen stunden, berichtet schon Tacitus: "lucos ac nemora consecrant". Vgl. Grimm Myth. Kap. IV. und XXI.

Wie der Aberglaube und die alten Bräuche des Volkes sich hauptsächlich noch an die alten heidnischen Kultzeiten schließen, z, B. die Weihnächte (Rauhnächte), so haften die Mythen auch am längsten an den Orten, die vermuthlich besondere Sitze des heidnischen Kultes waren. Die geografische Verbreitung der Mythen, Tagen und Bräuche ist so wenig gleichmäßig als die der Bevölkerung, Gewisse Orte sind für Volksüberlieferungen auffallend ergiebig, ein solcher ist Sivering und dessen waldige Umgebung. Da es nun bekannt ist, daß die christliche Kirche die heidnischen Festzeiten nicht plötzlich änderte und selbst die alten Kultusstätten besonders im Auge behielt, so darf man mit Rücksicht darauf, daß gerade die Siveringer Gegend von einem Christenboten, dem heil. Severinus, gewählt wurde, wohl die Vermuthung äußern, daß der Hermannskogel und seine Umgebung eine vielbesuchte heidnische Kultusstätte gewesen sei. Die vielen heidnischen Züge in der noch lebendigen Sage, der sehr zahlreiche Besuch des "Jungfernbrindls", ferner die Fülle von Mythen, die dort noch umgehen, und selbst die Geschichte deuten darauf hin.

Zur geschichtlichen Kunde dieser Gegend bemerken wir folgendes: Nach Paul Diakonus (Langob, 1, 19) war "in Norikum das Kloster des heil. Severin, der bis ans Ende seines Lebens in dieser Gegend wohnte", Um den Rugierkönig Feletheus, der auf Severins Ermahnungen nicht achtete, zu züchtigen, zog Odoaker von Italien aus nach Rugiland und von da wieder zurück (um 487).

Nach Aventinus (des beyerischen Geschichtsschreibers Chronica, Frankf. 1566, Bl. 288) stund Severin weit und breit in großen Ehren ("vorauß so er künfftig Ding wußt"); er war in diese noch römischen Lande mit seinem Bruder Victorinus gekommen, "Zu Passauw ist noch ein Pfarrkirchen, heißt zu S. Severin, so ligt ein halbe weil von Wien ein Dorfs, sol auch von im Severinus heißen. An diesen beiden orten hat er gehaußt eine zeytlang."

In dieser schönen Waldgegend Siverings lehrte und warnte er die "ungläubigen Teutschen" und verkehrte mit Fürsten und Königen, die seinen Rath suchten.

Ferner erzählt Aventinus (Bl. 291):

"Darnach zog Severinus gen Wien, thet sich ausserhalb der Statt nider, dienet allda Gott, da kam zu im der Rügen Fürst Odagker, erbott grosse Ehr Severino, ist noch ein Dorff bey Wien, heißt von diesem Fürsten Odagkin, der gemeine Mann Nadagkrin. Severinus sagt dem Odagker, er würd noch gewaltiger Herr über Rom und alles Welschland werden."

Demnach wären die Namen Sivering und Odakring 1) auf jene berühmten Personen zurückzuführen.
Die ältesten Ansiedelungen sind offenbar an der rechten Seite der Donau nach dem Wiener Wald hin, und hier erhebt sich der Hermannskogel mit seinen waldigen Abhängen.

Ob Hermanskogel dem Namen nach auf eine Gottheit (Hirmin s. Pfeiffers Germania III. 1, 126; Grimm Myth. 328 2) zu beziehen ist, müßen wir noch dahin gestellt sein lassen; den Mythen nach gewinnt es einige Wahrscheinlichkeit, denn daß die Hauptperson in denselben, Karl, niemand anders als Wuotan ist, geht aus den mitgetheilten Zügen klar hervor. Der Hermannskogel war der heilige Wald, der verehrte Baum über dem Brünnlein wahrscheinlich seine Grenze (vgl. Grimm Myth. 60 ff.) und die Jägerwiese eine Opferstätte.
Jener heilige Baum muß eine Art Irminsul (Grimm Myth. 105 ff.) gewesen sein, nur so erklärt sich die zähe Anhänglichkeit des Volkes an jene Stelle, wo Wuotan (wie Hermes und Merkur als dator bonorum, Grimm Myth. 137) als Glücksgott verehrt ward. Als Gott des Wunsches (Grimm Myth. 126; Wolf Beitr. 1,2) ist Wuotan vorzugsweise ein begabender, und dieß ist wohl der mythische Ursprung des heutigen Glücksuchens am Brunnen und in der Umgebung.

Die zweite Hauptperson Agnes hat mit der historischen Person nichts gemein; möglich wäre es aber, daß der Name einen Einfluß geübt auf die Benennung jener mythischen Person, so daß das Jungfernbrünnlein später auch Agnesbrünnlein genannt wurde. "Ein Jungfernbrünnlein, wo zuweilen eine geisterhafte Jungfrau erscheint," ist auch in Baiern (Panzer 1,105).

Unsere huldreiche, helfende Agnes ist die Gemahlin Karls, Wuotans, Der Name Holda ist in Österreich selten (S. 23 Holte), häufiger ist Bercht, am häufigsten Weiße Frau, und als solche erscheint sie hier.

Und so lebt denn das vornehmste deutsche Götterpaar, dem Volksbewusstsein längst entrückt, noch unter der Hülle heimischer Namen fort, und zwar vor den Thoren einer europäischen Großstadt.

1) Die gewöhnliche Schreibung Ottakring stimmt auch nicht zur volkstümlichen Aussprache. Die Endung -ing ist bei österreichischen Ortsnamen allgemein.
2) Möglich, daß man vor Zeiten Hirman gesprochen, wie noch in Baiern (Panzer 2, 39); auf dem Hügel Hirmon wurde ein Fräulein gesehen, welches einen Schatz hat (Panzer 1,28); der heilige Hirmann (Panzer 1, 88). Vergl. die Erörterung über Hirman in Frommanns deut. Mundarten V. 3, 351 fg.


Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 19ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.