Mythen und Bräuche
des
Volkes in Oesterreich

Als Beitrag zur
deutschen Mythologie, Volksdichtung und Sittenkunde
Von
Theodor Vernaleken.
Wien, 1859.
Vorwort.

Was ich im Süden des deutschen Landes, in den Schweizer Alpen, begonnen, setze ich fort im Süd-Osten, wo deutsches und slawisches sich vielfach berühren. Die günstige Aufnahme meiner "Alpensagen" ermuntert mich manches nachzutragen und seit den letzten 9 Jahren in Österreich gesammeltes den theilnehmenden zu bieten.

In Österreich ist die Mehrzahl der Leser gewohnt diese Überlieferungen entweder geverset oder in Almanachen und Kalendern ausgeschmückt zu finden. Während in allen deutschen Ländern dieser volkstümliche Theil der Literatur für die Wissenschaft gerettet ist, hat er in unserm Reiche nur für Tirol und Siebenbürgen seine Vertreter gefunden; außerdem haben J. Wenzig in Prag, Weinhold in Graz und Schröer in Presburg [Pressburg = Bratislava] demselben ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Es ist die höchste Zeit, daß die in Österreich, in Böhmen, Mähren und österr. Schlesien vorhandenen Reste mit Verständnis gesammelt weiden. Indem ich diese erste Lese ordnete, schien es mir zweckmäßig die historische Sage einstweilen ganz bei Seite zu lassen und mein Augenmerk vorerst auf die Mythenreste zu richten, die am ehesten der Vergessenheit anheim fallen. *)

Es ist eine große Lust brachgelegene Felder anzubauen. In der neuen Wissenschaft vom deutschen Volke, wie J. Grimm sie begründet, ist noch manche Lücke. Multum adhuc restat operis, multumque restabit; nec ulli praecludetur occasio aliquid adhuc adjiciendi. (Seneca ep. 64).

Man braucht nur das Register dieses Buches zu durchgehen, um sich zu überzeugen, daß für deutsche Mythologie und Volkskunde Österreich noch ein ergiebiges Feld bietet. Wir finden hier viele Nachklänge der alten Naturreligion unseres Volkes, deren noch nicht ganz erstorbene Wurzel bis auf die Gegenwart herabreicht. Wie bei der griech. Mythol. so haben wir auch bei der wissenschaftlichen Würdigung unserer Mythen nicht außer Acht zu lassen, daß jene Wurzel häufig neue Sprossen trieb, die überall die Färbung der Zeit und selbst des Landes an sich tragen. So lange poetischer Sinn im Volke lebt, wird diese dichtende Thätigkeit fortdauern; es ist aber schon von andern die Ansicht ausgesprochen, daß die Lebenskraft jener Wurzel bei uns im erlöschen begriffen ist. Darum sammeln wir die Reste.

Was der Nationalgeist schafft, ist immer bedeutsamer und dauernder als das was der einzelne schafft. Das größte in den Nationaldichtungen der Völker ist ans der Überlieferung des Volkes gestoßen oder schließt sich ihr wenigstens an. Die Überlieferungen sind der naturgemäße Grund und Boden für nationale Poesie und Kunst, und diese entarten, je weiter sie sich von diesem Boden entfernen.

In den Landstrichen zwischen den Alpen und Sudeten, den Karpathen und dem Erzgebirge ließe sich allerdings weit mehr sammeln, allein ich habe nur das berücksichtigt, was unserm Zwecke dient.

Die bereits gewonnenen Resultate der deut. Mythologie, Volks- und Sittenkunde theils mit neuen Zeugnissen aus bisher unerforschten Landestheilen zu belegen, theils durch neue Züge zu bereichern: Das ist der Zweck des vorliegenden Buches.

Eine Schwierigkeit liegt in dem Zusammenstoß des deutschen und slawischen, und ich hoffe, daß Männer, die der westslawischen Dialekte kundig sind, durch meine Mittheilungen zu eingehender Forschungen veranlaßt werden. Der Ethnografie und Geschichte dieser Länder werden die Resultate zu gute kommen, wenn man unbefangen und vorsichtig zu Werke geht und vor allem die eigentümliche Wanderlust der Sagen und Lieder nicht außer Acht läßt. Nichts bestätigt so sehr die nahe Verwandtschaft der Völker indo-germanischen Stammes als der Mythos und die Sprache. Weiter finden wir selbst die gleiche Anlage des menschlichen Geistes in der Naturdichtung der Völker.

Was die nichtdeutschen Völker Großösterreichs anbetrifft, so wird sich im Gebiete der Tschechen, Slowaken und Polen am meisten übereinstimmendes finden, dagegen die Südslawen (serbisch, slowenisch und illirisch-kroatisch) dürften an den Ruthenen eine Brücke haben von der polnischen zur russischen Mythe. Gewiß sind die westslawischen Landestheile weil mehr von deutscher Mythe berührt als die südslawischen. Hier ist noch ein gut Stück Arbeit übrig.

Der Inhalt dieses Buches ist geschöpft aus der lebendigen Quelle, wie sie eben noch fließt. Weder Mühe noch Kosten scheuend bin ich dabei zu Werke gegangen, wie alle Herausgeber größerer Sammlungen. Unter den vielen Lehrern, die mir sammeln halfen, muß ich namentlich der Herren I. Wurth in Münchendorf und Hübel in Komotau dankend erwähnen. Häufige Erkundigungen zog ich ein von meinen Schülern, deren ich seit 9 Jahren sehr viele aus Böhmen, Mähren und Schlesien gehabt habe. Für die Beschreibung der Volksgebräuche gibt es keine zuverläßigere Quelle. Die harmlose und getreue Auffassung solcher Dinge von der dabei unmittelbar beteiligten Jugend haben auch schon andere erfahren. Eine gewisse Vollständigkeit einer Mythe oder einer Volkssitte habe ich dadurch erlangt, daß mir häufig mehrere Relationen, von verschiedenen erzählt, zu Gebote standen.

Wien, am 1. Mai 1859.

                          Theodor Vernaleken.

*) Der lyrische Theil der Volksüberl. hat früher Beachtung gefunden. Hierher gehören die Sammlungen von J. G, Meinert, alte deutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens, 1817. Tschischka und Schottky, österr. Volkslieder, Pest, 1844 (2. Aufl.) Von Fr. [Franz] Ziska haben wir österr. Volksmärchen 1822.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. I - II.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.