52. [Die Salige]

In den abgelegenen Schluchten und Nebenthälern des Iselthales im östlichen Tirol erzählt man sich viel von den sogenannten salig'n Leut'n.1) Nach dem Glauben der Alten waren sie Kinder Adams, die er schon vor dem Sündenfalle gezeugt hatte, daher sie auch der traurigen Erbschaft nicht theilhaftig wurden, und für sie blieb die Erde noch Paradies, während sie für die Kinder der Sünde zum Jammerthal wurde. Jedoch hatte Gott auch für sie, als er nach der Sünde Gericht hielt, ein besonderes Urtheil gesprochen, welches auf ihr Dasein und auf ihre eigentümliche Lebensweise Bezug hatte.

1) Zingerle hat zwei Märchen von den „Salinger Fräulein“ S. 54 (I). Unsere Überlieferung hat mir ein Lehrer aus Schlaiten im Iselthale erzählt. Vergl. Schmell. 3, 223. Gr. Myth. 817 ff.- Pfeiffers Seelentrost (Fromm. Zeitschr. f. Mundart. 1, 170) Nr. 4. 5.

In der alten Zeit verkehrten sie zwar mit der noch unverdorbenen Menschheit, als aber diese allmählich entartete, musten sich die frommen und friedlichen Salig'n in einsame Höhlen und Wälder zurückziehen, wo sie sich aus Wurzeln und Kräutern schmackhafte Speisen zu bereiten wissen. Die Gemse, ihr Hausthier, ist für sie ganz zahm und gibt ihnen Milch; gegen Kälte und Hitze, sowie gegen andere Unbequemlichkeiten sind sie unempfindlich.

Vor nicht gar langer Zeit gab es in den Hochthälern Tirols noch viele, und sie ließen sich auch öfter sehen, aber immer nur bei einfältigen, frommen Leuten, denen sie für manche kleine Gabe Glück und Segen in das Haus brachten. Bald wurden jedoch auch diese „zu gescheid“, und die guten, lieben Salig'n lassen sich nun auch bei den Tirolern nicht mehr sehen.

Meine Mutter erzählte mir folgendes: Unweit von meinem Geburtsorte (Schlaiten im Iselthale) hoch auf einem Berge, ganz nahe der Alpenregion lebt ein Bauer Namens Griedling. Zu diesem kam alle Sonntag eine Salige, während alle Hausgenossen in der fernen Kirche waren, und nur die Magd oder die Bäuerin zu Hause das Mittagsmahl bereitete. Sie streckte dann immer die Hand durch ein offenes Fenster in die Küche, und die daheimgebliebene Person gab ihr von den schon bereiteten Speisen, worauf sie sich dann mit dem Wunsche, daß über diesem Hause der Segen Gottes ruhen möge, in den nahen Wald zurück begab. Sie war schön, ihr Aussehen ließ auf ein Alter von 30 Jahren schließen. Sie blieb sich durch viele Jahre immer gleich; ihre Haare trug sie aufgelöst, die Kleidung war die gewöhnliche Landestracht.

Einst hatte jener Bauer eine geizige und neidische Magd, die lieber daheim blieb, als in die Kirche gieng. Diese verdroß es, der Saligen immer die schon bereitete Speise zu geben, und als dieselbe wie gewöhnlich ihre Hand durch das Fenster steckte, nahm sie ein scharfes Beil und hieb ihr den Arm weg. Die so mißhandelte Salige entfernte sich ruhig mit dem Bedeuten, daß der Segen Gottes nun von diesem Hause weichen werde, Nebstdem solle sich immer eine kranke oder bresthafte Person in der Familie befinden, so lange das Haus stehe.

Diesen Wunsch findet der Aberglaube seit langem bestätigt; denn der Bauer hält zwar einen großen Viehstand, jedoch ist alles nicht hinreichend ihn von seinen Schulden zu befreien. Zu den bresthaften wird gegenwärtig eine Tochter vom Hause gerechnet, deren ganzer Rücken mit Schweinsborsten bewachsen ist; daher zeigt sich auch kein Freier und die unglückliche in ihrem unfreiwilligen Altjungfernstande muß die Sünde der neidischen Magd büßen.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 243ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, April 2005.