22. [Der Wassermann verkauft Bänder]

Hinter dem Dorfe Blaschdorf (Österr. Schlesien) fließt die Wag in einem seichten Bette. Nur eine einzige tiefe Stelle findet sich in dem Flusse, und hier hält sich der Wassermann auf. Deshalb fürchten sich alle Leute über den in der Nähe befindlichen Steg zu gehen. Früh in der sechsten, zu Mittag, Abends in der sechsten Stunde und um Mitternacht kann man den Wassermann sehen. Er ist klein, hat den Kopf verkehrt auf dem Rumpfe sitzen, seine Hände sind wie die Füße eines Frosches beschaffen, und grüne Kleider bedecken den Körper. In der linken Hand trägt er immer einen hohen Stock. Er bietet jedem vorübergehenden seine bunten Bänder zum Kaufe an. Als einmal ein Bauer aus dem Dorfe Brosdorf nach Blaschdorf gieng, und den genannten Steg betrat, sah er am Ufer den Wassermann von allerlei Bändern umgeben. Der Wassermann bot die Bänder dem Bauer zum Kaufe an; dieser aber sagte, daß er sie nicht brauchen könne. Darauf fasste der Wassermann den Bauern bei der Hand und in demselben Augenblicke waren beide im Wasser. Unter demselben war ein großes Zimmer, und in diesem befanden sich viele Fässer, welche mit Wasser gefüllt waren. Der Wassermann ließ den Bauer das Wasser kosten und dieser fand, daß in jedem Fasse ein anderes Wasser enthalten war. Er bemerkte auch das Geld, welches der Wassermann für die vertauften Bänder erhalten hatte. Ferner befanden sich dort die mit Eis überzogenen Leichen jener Menschen, welche in diesem Flusse ertrunken waren. Der Bauer muste sein ganzes Geld hergeben und versprechen erst nach neun Jahren zu erzählen, was er jetzt gesehen habe. Dafür bekam der Bauer einige Bänder, und dann stieg er wieder mit dem Wassermanne zum festen Lande empor. Als der Bauer nach Hause kam, sah er, daß er statt der Bänder Wasser im Rocke hatte. Die Stelle, wo ihn der Wassermann gehalten hatte, war grün und zeigte den Abdruck eines Froschfußes. Nach einigen Tagen schon erzählte der Bauer, daß er bei dem Wassermanne gewesen sei, und was er dort alles gesehen habe. Ein Jahr später kam er wieder in die Nähe des Wassermanns. Plötzlich wurde er von einer unsichtbaren Kraft dem Flusse immer näher getrieben und in das Wasser geschleudert. Er ertrank, und bezahlte so seinen Wortbruch mit dem Leben.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 193f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.