15. [Das weiße Pferd und der brennende Baum]

Unweit des Dorfes Laurentzi in Steiermark steht am Eingange eines Waldes ein hohler etwa 3 Fuß hoher Stamm, welcher das Trumm einer Buche ist. Von ihm erzählt sich das dortige Landvolk folgendes:
Als jener Baum noch vollkräftig da stund, gieng niemand ohne einige Scheu vor ihm vorüber, 1) denn es war allgemeiner Glaube, daß in diesem Baume jemand verzaubert sei. Der Verzauberte schütze diesen Baum und erwarte darin seine Erlösung. Wenn daher die Landleule spät abends von ihrer Arbeit vom Felde zurückkehrten, so fanden sie bei diesem Baume immer ein Hindernis, welches sie in ihrem Wege aufhielt. Gewöhnlich erschien ein Pferd von weißer selten schwarzer Farbe, welches bald den kommenden entgegensprengte, bald wieder hinter ihnen her rannte, doch ohne sie zu beschädigen. Dieses Pferd, so meinte das Volk, sei der Schutzgeist des Baumes gewesen. Einst, am späten Abend kam ein Bauer vom Feld, und war genöthigt an jenem Baume vorüberzugehen. In einiger Entfernung von demselben hörte er plötzlich aus jener Gegend her einen fürchterlichen Lärm, dessen Ursache er sich nicht erklären konnte. Bald klang derselbe wie weinen, bald wieder wie das wiehern eines Rosses und zugleich hörte man verworrenes Geräusch, welches dem knistern eines Feuers und dem fallen von Balken und Brettern ganz ähnlich klang. Aber bald überzeugte er sich, was es eigentlich war. Denn als er durch den Wald kam, sah er zu seiner Bestürzung diese verhängnisvolle Buche lichterloh brennen, und eilte daher an Ort und Stelle um einen Waldbrand zu erhüten. Doch kaum war er am Fuße der Buche angelangt, als dieselbe mit fürchterlichem Getöse umfiel und den Weg ihm versperrte. Jetzt rollte ein schrecklicher unterirdischer Donner, die Erde erzitterte und bewustlos fiel der Bauer zu Boden. Als er nacheiniger Zeit wieder zum Bewustsein kam, war der Brand vorüber, aber neben dem Baume lag etwas glänzendes, und als der Bauer es näher betrachtete, sah er lauter Goldstücke. Er raffte sie auf und ward auf diese Weise ein reicher Mann. Seit dieser Zeit hat auch jenes nächtliche Unwesen aufgehört, aber noch lebt es frisch in der Erinnerung des Volkes.

1) Vergl. Grimm Myth. 66. 614.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 37f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.