31. [Der Zwergelstein]

In Nied. Österreich liegt am Fuße des Schneeberges ein kleines Thal [Tal], das Buchbergerthal [Buchbergertal] genannt. Auf einer Voralpe des Schneeberges, dem Hengst, liegt ein großer Fels, genannt der Zwergelstein. Darüber geht folgende Sage.

In einer sehr stürmischen Christnacht saß beim Scheine der Kienfackel jung und alt beisammen, und horchte den Erzählungen des Großvaters. Da klopfte es mit einem Male an die Thür [Tür], und ein kleines ganz mit Schnee bedecktes Männlein trat herein, und bat um ein Nachtlager. Es war eine kaum zwei Fuß hohe Gestalt, welche ganz in grauen Loden1) gekleidet war, und an einem dicken knotigen Stock ein Ränzel über den Rücken hängen hatte. Unter einer hohen, spitzen Filzmütze blitzten aus einem von der Kälte geröteten Gesichte zwei kleine graue Äuglein freundlich hervor. Nachdem er sich gewärmt hatte, erzählte er, er sei aus einem benachbarten Dorfe, und habe noch diese Nacht nach Guttenstein hinüber wollen, sei aber in dem Schneegestöber von dem Wege abgekommen, und habe endlich dieses Haus bemerkt, in welchem er so freundlich aufgenommen sei.

Des andern Morgens bevor er Abschied nahm, kramte er noch lange in seinem Ränzel herum, und zog endlich aus demselben zwei schöne Äpfel hervor, die er dem jüngsten Kinde in die Wiege legte. Dann trat er hinaus in den Schnee, und der nachsehende Großvater glaubte zu bemerken, wie sich der spitze Filzhut in eine goldene Krone umwandle, wie überhaupt die ganze Gestalt zu einer riesigen Größe anwachse und endlich in Nebel aufgelöst an dem Abstürze des Schneeberges hinanschwebe2), In die Stube zurückgekehrt, hörte der Großvater etwas auf der Erde poltern, und bemerkte, daß die beiden Äpfel, welche der Fremde in die Wiege gelegt hatte, aus derselben herausgefallen waren. Er hob sie auf, und blieb sprachlos vor Erstaunen stehen, denn die Äpfel waren eitel Gold.3) - Der Zwergenkönig hatte bei ihm übernachtet.

Von nun an traten die Zwerge mit den Thalbewohnern [Talbewohnern] in einen näheren Verkehr, halfen bald hier bald dort, und waren allgemein beliebt. Doch einst erstieg ein vorwitziger Schäfer den Schneeberg, und wollte die Wohnung der Zwerge sehen. Was er dort erblickte, weiß niemand. Eilendes Laufes floh er den Berg hinab, ein furchtbares Gewitter zog sich zusammen. Schlag folgte auf Schlag, und die Blitze zuckten nach allen Richtungen. Da pfiff es durch die Luft, und gleich darauf legte sich das Gewitter. Die ergrimmten Zwerge hatten jenen ungeheuren Felsblock von der Kuppe des Schneeberges auf den verwegenen hinuntergeschleudert, unter welchem er bis auf den heutigen Tag zerschmettert liegt. Die Zwerge haben sich nie mehr sehen lassen. Von dieser Begebenheit leiten die Thalbewohner den Namen dieses Felsen her; und jeder vorübergehende macht ein Kreuz und sagt ein kurzes Gebet für die arme Seele des unglücklichen Schäfers.

1) Ein grobes, dickes, haariges Tuch.
2) Über die Beziehung Odins zu den Zwergen s. Gr. M. 432.
3) Vergl. Kuhn nordd. Sag. Nr. 292.


Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 206ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.