32. [Zwerge bauen eine Straße]

Unweit der Stadt Krems (Nied. Österr,) liegt das Dorf Senftenberg und in dessen Nähe die Ruine gleiches Namens. In alter Zeit war die Burg von einem Ritter bewohnt, der seine Unterthanen sehr hart behandelte. Der Weg, der zum Schlosse führte, war schlecht und steinicht, so daß man kaum mit einem Pferde zum Thore [Tore] des Schlosses gelangen konnte.

Des Ritters Gemalin war längst gestorben, und er hatte nur eine Tochter, die wegen ihrer Schönheit weit und breit bekannt war. Viele junge Ritter aus den naheliegenden Schlössern hielten um die Hand der Tochter bei dem Vater an, aber alle wies er zurück, indem er jedem Freier eine Aufgabe zur Bedingung machte, die zu lösen war. So vergiengen Jahre, und die Tochter blieb daheim.

Eines Morgens saß der Alte bei dem großen Bogenfenster seines Sales, und besah sich die schöne Gegend. Da erblickte er einen jungen Ritter zu Pferde, der sich dem Schlosse näherte. Mit vieler Mühe konnte der Fremde auf dem schlechten Wege zum Thore der Burg gelangen. Als man ihn eingelassen hatte, begab er sich zum Herrn des Schlosses.

Euer Schloß ist sehr hübsch, begann der fremde Ritter, aber der Weg, der herausführt, ist sehr schlecht und steinicht. Anstatt einer Antwort fragte der alte den fremden, was er von ihm wünsche. Und er äußerte den Wunsch, sich mit dem Burgfräulein zu verehlichen. Das dachte ich mir gleich, erwiederte mürrisch der alte Ritter; es geht aber mit der Sache nicht so schnell. Ihr wisst, daß ich die Gewohnheit habe, jedem Freier, der um die Hand meiner Tochter anhält, eine kleine Aufgabe zu geben. Nun bei euch will ich auch keine Ausnahme machen, und ich werde euch etwas zu thun geben. Seid ihr so glücklich es zu vollbringen, so sollt ihr mein Schwiegersohn werden.

Da ihr zuvor von dem schlechten Wege gesprochen habt, der zu meinem Schlosse führt, so gebe ich euch die Aufgabe vom Fuße des Beiges, auf welchem mein Schloß steht, bis zum Thore des Schlosses eine Straße bauen, welche so breit sein muß, daß vier Wagen nebeneinander fahren können. Dieß müst ihr in zwölf Stunden fertig haben, ihr könnt heute Abends um sechs Uhr anfangen, und morgen um sechs Uhr früh muß die Straße gemacht sein.

Nachdenkend verließ der Ritter das Schloß, und erzählte zu Hause alles seinem Diener. Der meinte, das ließe sich schon machen. Ihr wisst, sagte er, daß in den Bergen, wo sich euer Eisenbergwerk befindet, Zwerge hausen. Von diesen erhieltet ihr ja schon oft Anträge, das Bergwerk aufzugeben, damit sie nicht immer in ihrer Ruhe gestört würden, wofür sie euch reichlich zu belohnen versprachen. Die Zwerge sind geschickte Bergleute, und ihr könnt euch in den zwölf Stunden die Straße bauen lassen, dafür versprechet ihr ihnen, nicht mehr im Bergwerke arbeiten zu lassen.

Nun begab sich der Diener schnell zum Könige der Zwerge. Diesem brachte er sein Verlangen vor, und versprach ihm die Arbeiten im Bergwerke gänzlich aufzugeben, wenn die Straße beim ersten Hahnenrufe fertig sei; wäre dieß nicht der Fall, so würden die Arbeiten in dem Bergwerke in der Folge um so mehr betrieben werden.

Der Zwergenkönig gieng auf den Vorschlag ein. und versprach, die Straße in der angegebenen Frist zu vollenden. Mittlerweile war die Nacht eingebrochen, und die Zwerge machten sich an die Arbeit. Unaufhörlich arbeiteten sie die ganze Nacht, und als der Tag zu grauen begann, war der Bau der Straße bis auf weniges beendet. Da ertönte vom Schlosse her ein starker Hahnenruf, und klagend und jammernd verschwanden die Zwerge sammt ihrem Gebieter. Nun kam der Ritter und sein Diener mit einer Menge Bergknappen herbei und vollendeten das Werk. Der Hahnenruf aber, der vom Schlosse ertönte, war kein natürlicher, sondern der Diener konnte Thierstimmen nachahmen, und er that den Hahnenruf, bevor der Bau der Straße völlig beendet war, damit die Zwerge nicht ihren Lohn erhielten.

Punkt sechs Uhr sah der alte Ritter bei dem Bogenfenster hinunter, und erstaunte sehr, als er die große, breite Straße erblickte. Er muste nun, da er es versprochen hatte, dem Ritter seine Tochter zur Gemalin geben.1)

1) Daß Zwerge solche Arbeiten verrichten, ist ein in der Volkssage sehr seltener Zug; hier haben sie offenbar das Geschäft des Teufels übernommen.

Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 208ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.