Das dritte Gebot

In alter Zeit stand auf dem Berge zu Lutzmannsburg eine stolze Burg. Heute ist von ihr nur mehr eine Ringmauer zu sehen, und an der Stelle der prächtigen Gebäude befinden sich eine Kirche und zwei Friedhöfe.
Auf der Burg wohnte ein mächtiger Ritter namens Leutzmann. Am Fuße des Berges lag das Dorf, dessen Bewohner, friedliche und fromme Leute, ergeben ihr hartes Los trugen.

Ritter Leutzmann war sonst ein guter, braver Mann, nur die Kirche besuchte er nie. Sonntags ging er gewöhnlich auf die Jagd. Ritter und Knappen begleiteten ihn, das Jagdhorn erschallte, Hundegebell, Pferdegewieher und Schnauben erfüllte die Wege. Meistens zog der Burgherr aus, wenn die Leute zur Kirche gingen. Das ärgerte ihn, und oft schrie er sie grob an:

"Was habt ihr immerfort zu beten? Arbeitet lieber!"

Nur wenn ihm der Priester begegnete, grüßte er stumm und ritt seines Weges. Nach der Jagd kehrte der Ritter mit seinen Kameraden heim. Ein wüstes Gelage folgte. Da wurde oft bis frühmorgens gezecht. Und wenn die Leute morgens zur Arbeit gingen, saßen die Ritter noch immer beim vollen Becher.

So geschah es viele Jahre; da zog auf einmal der böse Nachbar heran. Der Wächter vom Turme rief:

"Feinde! Feinde!"

Die Trompeten schmetterten, die Rosse wurden aus den Ställen gerissen, die Waffen herbeigeholt, und alles rüstete sich zum Gefecht. Leutzmann, seine Ritter und Knappen schwangen sich rasch in die Sättel, die Zugbrücke wurde herabgelassen, und dann stürmten sie den Berg hinab gegen den Feind. Schwerter blinkten, Speere brachen, Schilde zersprangen, das Blut floß, und viele Ritter sanken tot zu Boden.

Leutzmann wurde besiegt. Rasch ritt er zurück in die Burg, eilte in den Stall und bestieg ein bereitgestelltes Pferd, auf dessen Hufe die Eisen verkehrt angeschlagen waren. Er schwang sich auf das Tier und entfloh durch einen unterirdischen Gang. Von jenem Tag an hörte man nichts mehr von ihm.

Der Sieger aber nahm die Burg in Besitz. Auch er verbrachte gleich seinem Vorgänger seine Jahre mit Krieg und Jagdfreuden. Die Bauern unten im Dorf gingen aber wie immer fleißig zur Arbeit und sonntags zur Kirche.

Es war an einem schönen Wintertag, einem Sonntag; das feierliche Geläut rief soeben die Gläubigen zur Kirche. Da wankte mühselig in zerlumpten Kleidern ein Greis daher. Auch er wollte in die Kirche. Schon war er auf den obersten Stufen der Kirchenstiege angelangt, als er plötzlich taumelte und zusammenbrach.

Die Leute liefen zusammen, doch niemand kannte den Greis. Da kam ein Mann des Weges, der in seinen jungen Jahren in der Burg bedienstet gewesen war; er erkannte den Toten an einer Narbe auf der Stirn. Es war sein einstiger Herr, der Ritter Leutzmann.

Als der Burgherr dies erfuhr, ließ er den Leichnam in die Burg bringen und ihn feierlich in der Familiengruft beisetzen.

So endete der Ritter Leutzmann, an den noch eine Gedenktafel in der katholischen Kirche in Lutzmannsburg erinnert. (175)



Quelle: Lesebuch für die burgenländischen Volksschulen, Adolf Parr, Teil II, Wien/Leipzig 1929, S. 215f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 190f.