Die Erscheinung in der Kapelle

Man hatte mir schon oft vom Bernsteiner Schloßgeist erzählt, doch muß ich sagen, daß ich all dem Gehörten recht ungläubig gegenüberstand, bis zu dem Tage, da ich selbst Dinge sah, die zu sehen ich niemals für möglich gehalten hätte.

Es war an einem Samstag in den ersten Tagen des Monats November. Meine Kusine hatte mir erzählt, daß man ungefähr um zehn Uhr abends merkwürdige Lichterscheinungen in der Kapelle, auf der Hauptstiege und im großen Saal wahrnehmen könnte. Auch wollten mehrere Personen öfter eine in -weiße Gewänder gehüllte Frauengestalt über die Stiege haben wandeln sehen. An jenem Samstag gingen nun meine Kusine, ein Vetter derselben und ich die Lichter beobachten.

Wir saßen alle drei der Kapelle gegenüber bei der großen Stiege, und mir wurde das Warten fast zu lang, da wir ungefähr schon eine Stunde damit zugebracht hatten, abwechselnd das Kapellenfenster und die Fenster des großen Saales zu beobachten.

Auf einmal sah ich deutlich Licht vor dem Eingangstor, das in den inneren Schloßhof führt; doch machte es mir ganz den Eindruck, als käme jemand mit einer Laterne von außen durch das Tor, und ich machte meine Kusine auch in diesem Sinne auf das Licht aufmerksam.

Nun hatten wir uns aber kaum dem Tor zugewendet - meine Kusine und ihr Vetter hatten nämlich vorher nicht hingesehen -, als auf einmal das ganze Tor sichtbar wurde, und zwar von einem starken, smaragdgrünen Licht beleuchtet. Dieses Licht hielt aber nur sekundenlang an und verschwand dann, um gleich darauf im Kapellenfenster so deutlich zu erscheinen, daß wir genau die Muster des Fensters und die sie umgebende Bleieinfassung sehen konnten.

Zu erklären waren die Lichterscheinungen nicht, da weder vor dem Tor noch in der Kapelle, deren einziger Eingang übrigens verschlossen war, irgend jemand sich befand, der das Licht hätte erregen können.

Die Lichterscheinungen habe ich einigemal, und zwar sowohl in der Kapelle als auch auf der Stiege und im Saale, gesehen. Durch die Unerklärlichkeit ihrer Entstehung berührten sie mich immer unheimlich. Am merkwürdigsten aber ist die Gestalt der obengenannten Weißen Frau. Ich habe dieselbe dreimal deutlich gesehen, und zwar jedesmal in der Kapelle, wo sie auf der ersten Altarstufe kniete und zu beten schien. Die Kapellentür, die, wie schon oben erwähnt, der einzige Zugang zur Kapelle ist, war jedesmal verschlossen und doppelt abgesperrt, meine Kusine hatte den Schlüssel in ihrem Zimmer liegen.

Es war am 2. Dezember 1912, ich saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, in meinem Zimmer, und meine Kusine war ins Oratoriumzimmer gegangen, um ein Buch zu holen. Plötzlich kam sie etwas erregt zurück und sagte mir, ich solle schnell mitkommen, in der Kapelle knie die Weiße Frau. Ich weigerte mich, und darauf ging meine Kusine zweimal zurück, um zu sehen, ob die Gestalt noch da sei. Endlich, auf wiederholtes Bitten, ging ich mit meiner Kusine, und wir sahen beide durch das Oratoriumfenster in die Kapelle hinunter, wo die weiße Gestalt deutlich vor dem Altare kniete. Sie war von einem grünen Licht umgeben, oder eigentlich möchte ich sagen, sie hatte es an sich, es sah aus, als hielte sie es vorn an der Brust, und es schimmerte durch den Schleier, den sie auf dem Kopfe trug. Doch hielt dieses Licht nicht stetig an, es verlosch von Zeit zu Zeit, ungefähr wie das Licht einer elektrischen Taschenlaterne, die man in kurzen Zwischenräumen anzündet und wieder auslöscht. Meine Kusine leuchtete zweimal mit Zündhölzchen in die Kapelle hinab, und das Licht fiel auf die weiße Gestalt, die ganz deutlich sichtbar blieb. Ich wandte mich nun einen Moment vom Fenster ab, ungefähr so lange, als man braucht, um bis zehn zu zählen. Als ich darauf wieder in die Kapelle hinabsah, war es vollständig dunkel darin, und die Weiße Frau war spurlos verschwunden. Ich kehrte nun in mein Zimmer zurück, und meine Kusine lief, so schnell sie konnte, über die große Stiege hinunter, sperrte die Kapelle auf (ich konnte es deutlich in meinem Zimmer hören, da alle Türen offenstanden) und suchte alles genau durch; umsonst, es war nirgends etwas zu finden. Als meine Kusine dann zurückkam, sagte sie mir, sie sei der Weißen Frau auf der Stiege begegnet.

Ich habe die Weiße Frau dann noch zweimal gesehen, und zwar wieder in der Kapelle, vor dem Altar kniend. Das zweitemal schien mir das Gewand heller als am Tage vorher, es war mir vorgekommen, als hätte es einen Stich ins Graue gehabt. Immer hatte die Gestalt das grüne Licht an sich. (109)


Quelle: Schloß Bernstein im Burgenland, W. Erwemweig, Bernstein 1927, S. 61f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 116ff.