Der erschreckte Gast

Am 28. Oktober 1911 kam der Direktor eines großstädtischen Museums, Herr E. von R., mit seinem Sekretär, Herrn von C., vom königlich-ungarischen Kultusministerium entsendet, nach Bernstein, um im Schloß das Stukko des großen Barocksaales zu besichtigen und zu photographieren. Er übernachtete im Schloß. Von der Familie waren damals außer mir nur mein Schwiegervater und meine Tochter anwesend.

Als nach dem Souper die Rede auf okkulte Dinge kam, war Herr von R. etwas unangenehm berührt, als er hörte, daß im Schloß eine Weiße Frau wandeln solle. Er erwähnte unter anderem, er glaube an solche Dinge und habe in Italien auch einmal etwas Derartiges erlebt. Wir blieben noch bis gegen elf Uhr abends im Gespräch zusammen, dann ging jeder in sein Zimmer. Da es schon spät im Herbst und kalt war, wurden die beiden Herren in die Gastzimmer einlogiert, die an die Zimmer meiner Tochter anschlössen, während Herren sonst im anderen Trakt untergebracht wurden. Die Reihenfolge der Zimmer war folgende: Anschließend ans Oratoriumzimmer der Kapelle owohnte Herr von R., neben ihm sein Sekretär, dann folgten zwei Zimmer meiner Tochter, hierauf meine drei Zimmer. Ich schlief im mittleren derselben, im fünften Zimmer von Herrn von R. An mein Schlafzimmer schloß sich, als letztes im Trakte, mein Salon an.

Aus tiefem Schlaf erwachend, im Halbschlaf, sah ich deutlich, wie die Tür des Nachbarzimmers aufging und wie eine weiße Gestalt langsam durch das Zimmer ging, worauf sich die Salontür öffnete und die Gestalt im Salon verschwand. Im langsamen Vorbeischweben an meinem Bette machte sie mir, sehr sanft und lieblich im Gesichtsausdrucke, mit der Hand ein Zeichen. Ich lebte damals unter schweren Seelendepressionen und empfand die Gestalt als etwas Tröstendes, und so war ich mir bei vollem Erwachen nicht im klaren, ob die Gestalt mir beruhigend oder rufend winkte. Kaum, daß ich vollkommen bei mir war, schlug meine Uhr zwei. Ich hörte während dieses ganzen Vorfalles, der sich in Sekunden abspielte, den kleinen Hund meiner Tochter, der im Zimmer neben ihrem Schlafzimmer seine Schlafecke hatte, heftig bellen. Mir war jeder Schlaf vergangen, und ich hatte starkes Herzklopfen.

In der Früh ging ich, wie jeden Morgen, zu meiner Tochter ins Zimmer, die mir gleich erzählte, daß Herr von R. gegen zwei Uhr nachts heftig nach seinem Sekretär gerufen und sie die beiden Herren lebhaft und aufgeregt sprechen gehört habe. Ich sagte meiner Tochter, auch ich habe eine schlechte Nacht gehabt und erzählte ihr mein Erlebnis. Hierauf ging ich ins Speisezimmer, um die beiden Herren unten zu erwarten. Sie wollten nach gemachten photographischen Aufnahmen im Laufe des Vormittags abreisen.

Mit fiel gleich auf, daß Herr von R. elend aussah. Ich fragte ihn, wie er geschlafen habe. Er antwortete mir auf französisch:

"J'ai passe une nuit blanche! "

Auf meine Frage weshalb, antwortete er:

"C'etait terrible, j'ai vu la Dame Blanche!", und er erzählte mir hierauf mit zitternder Stimme folgendes:

Er sei plötzlich durch einen kühlen Lufthauch erwacht, und die Weiße Frau sei bei seinem Bett, über ihn gebeugt, gestanden. Da sei er erschrocken aufgefahren; sie habe sich ans Fußende seines Bettes gestellt und ihn starr angeschaut, worauf er nach seinem Sekretär gerufen habe. Als dieser hereinkam, sei sie noch immer regungslos dagestanden, doch habe sie derselbe nicht gesehen und ihn beruhigend fortwährend auf ungarisch gefragt:

"Was haben Sie, gnädigster Herr, was fehlt Ihnen?"

Er habe mit der Hand auf die Erscheinung gezeigt und den Sekretär gefragt, ob er sie denn nicht sähe, was dieser verneinte. Auf einmal sei die Erscheinung verschwunden.

Herr von R. beschrieb mir nun genau das Aussehen der Erscheinung, die in weißen Schleier gehüllte Gestalt, mit dem diademartigen ungarischen Kopfschmuck (Párta) auf der Stirne. Hierauf erzählte ich ihm mein Erlebnis, das in der Zeit mit dem seinigen zusammentraf. Meine Erzählung regte ihn sichtlich auf. Er bat auch sofort ums Auto, erklärte, wegen seines Seelenzustandes keine Stunde länger bleiben zu können, und fuhr nach Sz. ab.

Die Erscheinung hatte auf mich keinen erschreckenden, vielmehr einen beruhigenden Eindruck gemacht, und ich gehe auch heute noch ohne Furcht und Grauen sie wiederzusehen durch alle Räume des Schlosses bei Tag und Nacht.

Details an der Gestalt kamen mir nicht zum Bewußtsein, doch war der Eindruck, den sie in mir erweckte, ein lieblicher.

Obwohl seither viele Jahre vergangen sind, steht dieses Erlebnis noch vollkommen klar und lebhaft vor mir.


Quelle: Schloß Bernstein im Burgenland, W. Erwemweig, Bernstein 1927, S. 57f, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 113ff.