Die Flucht

Als die Türken das zweitemal von Wien zurückgeworfen wurden, marschierten sie auch gegen Stinkenbrunn. Im Dorfe versteckten sich alle Leute, als sie hörten, daß die Türken sengend und brennend auf dem Rückzug sich befänden. Nur eine Frau hatte sich verspätet, als sie noch am Felde war und das Heranziehen der Türken sah. Mit Mühe nur konnte sie sich unter einer Brücke verstecken. Ihr Schicksal aber wollte es, daß der Anführer einer Gruppe Türken über ihrem Verstecke dahinsprengte. Plötzlich scheute das Pferd, und er rief:

"Dora, geh!"

Die Versteckte aber hieß auch Dora, und sie kam aus ihrem Versteck hervor, da sie glaubte, daß sie gemeint sei. Sie wurde aber festgenommen und in Gefangenschaft geschleppt. Sie weilte bereits fünfzehn Jahre in Gefangenschaft. Zweimal wollte sie entfliehen, doch jedesmal mißlang es ihr. In einer Nacht, als alles schlief, eilte sie wieder von dannen. Bei Tag versteckte sie sich, des Nachts aber setzte sie ihren Weg fort. Da hörte sie eines Tages Pferdegetrappel und dachte, dies können nur ihre Verfolger sein. Richtig, es war auch so. Der Verfolger führte auch seinen Hund mit, und schon hatte er sie erblickt, doch verriet er die Frau nicht, denn er hatte sie gerne. So kam sie mit ihrem Schatz, den sie wohlverwahrt bei sich trug, in die Heimat zurück. Dort angekommen, bat sie in ihrem Vaterhaus um Obdach, das man ihr auch gerne gewährte. Am nächsten Morgen erkannte sie ihr Mann an dem Muttermal, das sie im Gesicht hatte. Ihr Mann, der unterdessen eine andere Frau geheiratet hatte, nahm sie auf und setzte sie wieder in ihre Güter ein.


Quelle: Mitteilungen des Burgenländischen Heimat- und Naturschutzvereines III, Eisenstadt 1929, S. 54, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 151f.