Der Galgen

Sooft der Kutscher seinen Grafen mit dessen Galawagen ausführte und sie bei dem Galgen vorbeifuhren, machte der Kutscher jedesmal das Kreuzzeichen. Dies fiel dem Grafen auf, und nun fragte er diesen nach dem Grunde, warum er dies tue. Der Kutscher entgegnete: Da hier schon so viele unschuldig aufgehangen wurden. Diese Antwort ließ dem Grafen keine Ruhe, und nun beschloß er nach langem Sinnen, eine Probe zu machen, ob es möglich sei, Unschuldige zum Tode zu verurteilen.

Er begab sich einstens in den Roßstall und stach sein schönstes Pferd nieder, worauf er sich rasch entfernte. Nach einiger Zeit kam sein Roßknecht atemlos gerannt und meldete seinem Herrn, daß sein schönstes Pferd verendet in einer Blutlache liege. Der Graf beschuldigte ihn selbst des Verbrechens und machte ihm den Prozeß. Der arme Roßknecht wurde zum Tode verurteilt, und umsonst waren alle seine Unschuldsbeteuerungen. Als man ihn zur Richtstätte führte, betete er unablässig unterwegs und beteuerte ein um das andere Mal, daß er vollkommen unschuldig sei. Als der Graf sah, daß dem Roßknecht bereits der Strick um den Hals gelegt wurde, sprang er hinzu und bekannte, daß er selbst der Täter war.

Nun sah er wohl selbst ein, daß es tatsächlich möglich war, Unschuldige dem Tod zu überantworten.


Quelle: Sagen aus dem Burgenland, Karl Kiraly in: Oberwarther Sonntagszeitung, 7.11.1937, S. 4, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 210f.