Der Postknecht von Jennersdorf

In einer stürmischen Regennacht wurde der Postwagen, der von Graz nach St. Gotthard fährt, in der Nähe von Jennersdorf überfallen.
Die Räuber schlugen den Schwager vom Bock, ermordeten die fünf Fahrgäste, stürzten den gelblackierten Wagen um, spannten die vier Pferde aus und trieben sie im Dunkel davon.

Als die Jennersdorfer am nächsten Morgen die gräßliche Untat entdeckten, fanden sie zu ihrem Erstaunen inmitten des Wusts der erbrochenen Reisekoffer, Bündel, Kissen und Decken ein schlafendes Büblein, -welches anscheinend von den Räubern übersehen worden war.

Sie hoben den etwa Fünfjährigen aus den Trümmern und brachten das unglückliche Kind nach Jennersdorf, wo es seinen Rettern schluchzend und unter vielen Stockungen über den Hergang des schauderhaften Geschehens berichtete.

Nichts war ihm vor Schreck im Gedächtnis geblieben, was man allenfalls zur Ausforschung der Übeltäter hätte verwenden können, nur das eine, daß der Mann, der auf seine Mutter mit einem langen Messer eindrang, eine feuerrote Narbe auf der linken Wange und eine schwarze Binde über dem linken Auge trug.

Als die Mutter in ihrer Todesangst um Hilfe schrie, habe der Räuber ein fremdes Fluchwort gebraucht und gesagt: "Maledetto".

Aufgrund dieser Schilderung des einzigen überlebenden Tatzeugen wurden Steckbriefe erlassen und alle notwendigen polizeilichen Nachforschungen eingeleitet.

Der Knabe, dessen Familienname trotz aller Bemühungen nicht festgestellt werden konnte, kam zu einer Gastwirtsfamilie in Jennersdorf, die ihn zu einem rechtschaffenen und braven Burschen heranzog.

Die Jahre vergingen im Flug, und aus dem geretteten Knaben war ein schmucker junger Mann geworden, dem manches Mädel zutraulich und gerne nachsah.

Doch blieb er über die Maßen verschlossen, ernst und grübelte oft stundenlang vor sich hin. Das furchtbare Erlebnis seiner Kindertage und den schrecklichen Tod seiner Mutter konnte er nicht aus seinen Gedanken bannen.

Längst war er Postknecht geworden und befuhr nun als gewissenhafter Postillon die gleiche Strecke, auf der er einst vor vielen Jahren beinahe sein Leben eingebüßt hatte.

Wenn er mit seinem gelben Wagen zu der Stelle kam, wo damals der Überfall stattfand, blies er jedesmal seiner toten Mutter besonders gefühlvoll einen Gruß.

Doch wenn er hernach sein Posthorn versorgte, trug er einen verbissenen Zug im Gesicht und murmelte ein Wort vor sich hin: "Maledetto".

So verging die Zeit. Jahr für Jahr versah der Postillon getreulich seinen Dienst, bis einmal in Fehring ein vornehmer Mann zusteigen wollte, der ihn sogleich in allergrößte Erregung versetzte.

Da alle Plätze im Wageninnern besetzt waren, der feine Fremde aber auf jeden Fall mitkommen wollte, stieg er nach dem damals üblichen Brauch zum Schwager hinauf auf den hohen Bock.

Seine linke Wange verunstaltete eine mächtige Narbe, und wenn er auch keine schwarze Binde trug wie der Räuber von einst, so sah man an dem starren Blick doch genau, daß er links ein Glasauge eingesetzt hatte.

Der Postknecht war wie verwandelt, als habe ihn ein unbekannter Schlag gerührt, so fieberte er in einer brütenden Unruhe vor sich hin.

Weiß Gott, welche innere Stimme ihm die Gewißheit zuflüsterte:

"Dies ist der Mörder deiner Mutter, der oder keiner!"

Alles in ihm vibrierte vor Haß und Rachlust, die Zügel zitterten in seinen Händen.

So fuhren sie stundenlang durch das gesegnete Land.

An der Stelle des Überfalls hielt der bebende Schwager wie immer die Rosse an und wollte sein Lied blasen.

Da zischte ihn der vornehme Reisegast wutentbrannt an:

"Maledetto, was hält Er, Tölpel, hier auf freier Strecke?"

Kaum hörte der Schwager das verhaßte Wort, das ihm seit Kindestagen qualvoll im Hirn brannte, da warf er auch schon den Fremden vom Kutschbock hinunter, sprang nach und schlug mit der Peitsche auf ihn ein, daß dem Hören und Sehen verging.

Und weil er wie rasend nicht abließ von ihm, so gestand der Überraschte schließlich zum Erstaunen der bestürzten Mitreisenden seine furchtbare Untat ein und flehte um Gnade.

Aber der Schwager fesselte ihn mit Hilfe einiger beherzter Mitreisender und übergab ihn kurz darauf einer Pandurenstreife.

Nach einigen Wochen wurde der überführte Räuber in Fürstenfeld öffentlich hingerichtet und mit dem Schwerte enthauptet.

Quelle: Die goldenen Lerchen. Geschichten und Sagen aus Oberösterreich, Niederösterreich und dem Burgenland, Hiess, Linz 1949, S. 242ff, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 179ff.