Der Totenvogel
Kirche von Loretto im Burgenland © Harald Hartmann
Kirche von Loretto im Burgenland
© Harald Hartmann, August 2006

In Loretto lebte einmal ein Pfarrer, dessen Altersschwäche ihn schon jahrelang ans Zimmer fesselte. An einem kalten Wintertag hörte er im Kamin ein leises Pochen, das immer kräftiger wurde, bis zu seiner Überraschung aus dem Ofen ein kohlschwarzer Vogel herauskroch. "Der Totenvogel!" dachte der alte Mann. Er nahm den schwarzen Vogel voll Freude auf und hatte in seiner Einsamkeit eine kleine Zerstreuung. Tag für Tag erschien der schwarze Vogel, aß die Speisen, die ihm der Pfarrer vorlegte, und hüpfte abends wieder in den Kamin hinein.

Eines Abends ging die Wirtschafterin an der Zimmertür des Pfarrers vorbei und vernahm ein ängstliches Krächzen. Nichts Gutes ahnend, eilte sie in das Zimmer. Im Dämmerlicht saß der alte Mann im Lehnstuhl, das Haupt auf die Seite geneigt. Auf seinen sanften Gesichtszügen lag ein verklärtes, glückliches Lächeln. Der schwarze Vogel saß auf seiner Schulter und krächzte in einem gedehnten jammernden Ton. Da die Frau an das rätselhafte Tier und sein Krächzen schon gewöhnt war, beachtete sie es weiter nicht und glaubte, daß der Pfarrer schlafe. Kaum wollte sie jedoch das Zimmer verlassen, begann der Vogel noch lauter zu schreien. Das kam der Frau doch bedenklich vor. Sie näherte sich dem Pfarrer und erkannte, wie er mit offenen Augen schon ins Jenseits hinüberblickte.

Als man den Pfarrer zu Grabe trug, sah man im Kirchhof den schwarzen Vogel, dessen anhaltendes Krächzen alle Leidtragenden tief erschütterte. Erst im Dunkel der Nacht verschwand das gespenstige Tier und kam nie wieder. Die Leute sagten, es sei der Totenvogel gewesen, der dem alten Pfarrer den Abschied aus diesem Leben leichter gemacht hätte.

Quelle: Adolf Parr und Ernst Löger, Sagen aus dem Burgenland, Anton Mailly Wien/Leipzig 1931, Nr. 19, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 92f.