Die überlistete Pest

Zur Zeit, als die Pest in Niederösterreich wütete, ging in den Abendstunden eines finsteren und unfreundlichen Herbsttages ein junger Bursche aus Hof zu seinem Mädchen nach Au. Unweit der Gemeindegrenze hörte er auf einmal ganz eigentümliche Klagelaute und gewahrte näherkommend eine schlanke, schwarze Frauengestalt, die ihn weinerlichen Tones bat, sie ein Stück des Weges bis über die Grenze nach Au zu tragen, da sie nicht mehr weiterkönne. Der kräftige Bursche lud frohgelaunt die Frau auf seinen Rücken. Diese tat sehr erfreut, einen so gefälligen Menschen gefunden zu haben, und fragte den Burschen, ob er wisse, wen er trage, was der Bursche verneinte.

"Ich bin die Pest und wäre ohne deine Hilfe nicht nach Au gekommen", erklärte die Frau. "Aber ich will mich dankbar zeigen; während ich hier raste, geh in die Ortschaft und lege auf die Fenster deiner Bekannten und Verwandten Steine, das soll das Zeichen sein, welche Häuser ich verschonen soll."

Erschrocken lief der Bursche ins Dorf und legte in alle Fenster Steine.

Auf dem Rückwege begegnete er der Pest, die ihm erbost zurief:

"Ist denn der ganze Ort mit dir verwandt, kennst du denn alle Leute in Au?"

"Ja", entgegnete der Bursche, "alle sind mit mir verwandt, und alle kenne ich."

Tatsächlich starb in Au niemand an der gefürchteten Seuche.


Quelle: Sagen aus dem Leithagebirge, in: Volk und heimat, !. Jg. (1948), Nr. 11, S. 6, zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 101f.