Die Weiße Frau von Schloß Bernstein

Schloss Bernstein, Oberwart, Burgenland
© Harald Hartmann, Jänner 2007

Vor langer Zeit lebte auf Schloß Bernstein ein Graf, der in den Krieg gegen die Türken zog und seine junge Frau der Obhut eines Knappen überließ. Als der Graf heimgekehrt war, erfuhr er von der Untreue seiner Ehefrau. Er wollte sich aber selbst überzeugen, ob das üble Gerede auf Wahrheit beruhe, ehe er sie bestrafte. Er täuschte ihr daher eine längere Reise vor und nahm rührenden Abschied. Aber schon am Abend des nächsten Tages erschien der Graf ganz unvermutet im Schloßhof. Er eilte in das Gemach seiner Frau und fand sie in den Armen des Knappen. Wutentbrannt stach er den Liebhaber nieder, und seine untreue Frau ließ er noch in derselben Nacht im schwarzen Turm einmauern.

Jahre vergingen. In einer stürmischen Herbstnacht saß der vereinsamte Graf in seinem Gemache. Da tat sich plötzlich die Tür auf, und herein trat im weißen Gewände seine tote Frau. Sie blickte ihn flehend an und winkte ihm, ihr zu folgen. Dann verschwand sie wie in einem Nebel. Er schrie wie wahnsinnig um Hilfe und erzählte seinem Leibjäger das schauerliche Erlebnis. Dann tat er noch einen schweren Seufzer und fiel, vom Schlage gerührt, tot zu Boden.

Seitdem wurde die Weiße Frau auf Schloß Bernstein schon 'wiederholt gesehen. a)

*


Auf Schloß Bernstein erschien seit dem Jahre 1859 wiederholt die Weiße Frau.

Im Kern einer Lichtstrahlung wandelt eine kleine, zierliche Frauengestalt mit reichem, über die Schulter wallendem Haar, traurig ins Leere starrenden Augen, etwas nach links geneigtem Kopfe, an den Hals oder die linke Wange geschmiegten gefalteten Händen. Manche behaupten, die Weiße Frau berge mit ihren Händen eine Hals wunde, andere wieder wollen sogar den Griff eines Stiletts aus dem Halse hervorragen gesehen haben. Auf dem Kopfe trägt die Weiße Frau einen kronenartigen Schmuck, und ein weißer Schleier hüllt die ganze Erscheinung ein. An einem Gürtel hängt ein Schlüsselbund. Wer die Ahnfrau gesehen hat, erzählt, daß sie immer die Lebenden mit bittenden und winkenden Gebärden zu bewegen sucht, ihr zu folgen.

Die Weiße Frau von Bernstein erscheint im Schlosse bald hier, bald dort, gewöhnlich in den Abendstunden, seltener bei Tageslicht. Sie schwebt gleichsam über die Treppen, durcheilt die Schloßgänge und gelangt schließlich in die Kapelle, in der sie vor dem Altare niederkniet und die Hände zum Gebet faltet. Sodann verschwindet sie. Einige Male blickte sie aus einem Saalfenster in den Schloßhof hinab, und jene, die sie gesehen haben, erzählten, daß die kleine Gestalt im helleuchtenden Fensterrahmen von einem grünen Schein umflossen war. b)

*

Es geht die Sage, daß ein B.scher Schloßherr des Cinquecento, ein Ujiláky, der eine Italienerin zur Frau hatte - daher vielleicht die kleine Gestalt - , diese einst in zärtlichem Tête-à-tête mit dem Herrn Sekretär überraschte und ihm dafür seinen Dolch ins Herz stieß. Die Ungetreue aber wurde in den viele Klafter tiefen Brunnen der Burg geworfen. c)

Quelle: a) u. b) Adolf Parr und Ernst Löger, Sagen aus dem Burgenland, Anton Mailly Wien/Leipzig 1931, S. 120 u. 122., zit. nach Sagen aus dem Burgenland, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 109ff.
c) Fast hundert Jahre Lebenserinnerungen, Helene Erdödy, Zürich/Leipzig/Wien 1929, S. 187f (gekürzt), zit. nach ebenda