Der Riese vom Mirnock
Zwischen dem freundlichen Gegendtal und dem breiten unteren Drautal zieht
sich der Mirnock mit seinem langen, nach Osten sanft abfallenden Rücken
bis gegen Villach hin. Vor vielen Jahren war auch dieser Berg ein Nock
mit runder Kuppe. Doch ein mächtiger Riese, der in einer Felsenhöhle
unter der Kuppe des Mirnock hauste, hat diesen stolzen Gipfel zum Absturz
gebracht.
Als der Mirnock noch seine hohe Kuppe trug, gab es an seinem Fuß
im Gegendtal nur einen einzigen großen See; der Brennsee und der
Afritzer See waren noch nicht voneinander getrennt.
Der große See in der Gegend" war reich an Fischen und
an seinen blühenden Ufern hausten zahlreiche Fischer. In einer Hütte
reifte eine blauäugige, blonde Fischerstochter zum schönsten
Mädchen des Tales heran. Auf diese hatte es der Riese abgesehen.
Jeden Abend lächelte der Unhold vom Berg herunter, strich sich seinen
langen wirren Bart und brummte: Die muß ich haben! Die und
keine andere!"
Und dann kam ein günstiger Augenblick. Der Vater dieser schönen
Jungfrau ging nach Villach, um seinen reichen Fang zu verkaufen und ließ
die Tochter allein im Haus zurück. Mit wenigen Sprüngen war
der Riese am See, ergriff das Mädchen und zerrte es auf den Berg.
Es half kein Bitten und Flehen. Der Riese schob sein Opfer in eine Höhle
und band es mit einer Kette am Felsen so fest, dass es sich nur wenige
Meter weit bewegen konnte.
Als spät abends der Fischer in sein Haus zurückkam, beunruhigte
ihn die Abwesenheit seiner Tochter.
Im Ufersand fand er gewaltige Fußspuren, und sofort fiel sein Verdacht
auf den Riesen. Er wollte
die Tochter um jeden Preis wieder befreien.
Am nächsten Morgen stieg er durch den Wald immer höher auf den
Berg und sann darüber nach, wie er
dem Unhold beikommen könnte. Weil ihm keine passende List einfiel,
setzte er sich auf einen bemoosten Stein. Da trat ein buckliges Waldweiblein
aus dem Holz und tippte leicht auf die Schultern des Fischers:
Was fehlt denn? Warum seid Ihr so traurig?"
Der Fischer erzählte dem Weiblein sein Leid und schloss mit den seufzenden
Worten: Doch wie soll
ich dem Riesen beikommen? Mit Kraft vermag ich es nicht. Und List will
mir keine einfallen".
Ich will Euch helfen", bot sich das Weiblein an. Ich
kenne eine Schwäche des Riesen. Er liebt meinen Kräuterschnaps,
den ich selbst bereite. Ich geb Euch davon eine Flasche voll mit".
Das Weiblein humpelte zu einer Hütte in den Wald und kehrte bald
wieder zurück. Hier! Diesem Trank
kann der Riese nicht widerstehen."
Der Fischer ließ die Flasche in seinem Rock verschwinden und wanderte
nach kurzem Dank weiter, der Kuppe des Berges entgegen. Neben dem Steingeröll
vor der Höhle sonnte sich der Riese und ließ seine Blicke über
die Kärntner Berge schweifen. Plötzlich kam Leben in seine riesigen
Nasenflügel, und er schnupperte einen berauschenden Duft. Als der
Fischer unter dem Geröll auftauchte, streckte der Riese seine klobigen
Hände nach ihm aus. Dieser aber schwenkte die (lasche gegen den Riesen,
der bald unwillig brummte: Komm her mit diesem leckeren Zeug, das
mir so stark in die Nase steigt!"
Nun haschte der Riese nach der Flasche. Mit einem einzigen Zug gurgelte
er den Rauschtrank durch den Schlund, und nach einem langen und lauten
\"Aal\" begann der Saft seine Wirkung zu tun. Der Riese schlief
ein und sein Schnarchen lärmte wie Donnergrollen über die Berge.
Der Fischer aber eilte in die Höhle, löste die Ketten seiner
Tochter und rannte mit ihr an das Ufer
des Sees zurück.
Erst am nächsten Morgen erwachte der Riese aus seinem betäubenden
Rausch. doll Sehnsucht nach dem
Mädchen rannte er in die dunkle Höhle. Nur die Ketten zeigten
noch die Spur seines Verlustes.
Den Riesen packte eine fürchterliche Wut. Er rollte die Augen und
stürzte aus der Höhle. Mit seinen sehnigen Riesenfäusten
packte er die Kuppe des Mirnocks und schüttelte sie derart heftig,
dass sie in Stücke sprang. Die Felstrümmer kollerten in wilden
Sprüngen den steilen Hang hinunter; der Riese hoffte, dass sie das
Fischerhäuschen mit seinen Bewohnern vernichten würden. Die
Felsen aber stürzten mitten in den großen See und teilten das
friedliche Wasser in zwei kleine Seen. Der Unhold hörte erst auf,
als die Steine nach und nach aus dem Wasser wuchsen. Dann aber verließ
er den abgestürzten Mirnock und zog sich ganz zurück in die
Einsamkeit der Nockberge.
Auf den Steintrümmern, die den Brennsee vom Afritzer See trennen,
liegt bereits seit langer Zeit fruchtbares Ackerland, so dass sich dort
einige Bauern niedergelassen haben. Nur der kleine Schilfbestand neben
der Straße deutet noch auf den einstigen großen See in der
Gegend hin.
Quelle: Email-Zusendung von Michael Steiner, 31. Oktober 2002, aus Fresach in Kärnten.