DIE SCHWARZE FRAU VOM BURGSTALL

Heute noch steht der Burgstall südwestlich der Ortschaft Lainach. Er ist auf den Ruinen einer uralten Burg erbaut. Vor mehreren hundert Jahren begegnete Beerensammlern und Hirten oft eine große, immer traurige, schwarz gekleidete Frau. Sie sprach nie ein Wort, nickte den Leuten nur immer ernst zu. - Eines Tages trieb ein junger Bursche, der allen als heiter und unerschrocken bekannt war, seine Schafe in die Gegend. Er rastete am Waldrand. Plötzlich stand die schwarze Frau vor ihm. Sie begann zu sprechen: "Hilf, mich zu erlösen, du bist mutig! Dreimal mußt du dich unerschrocken zeigen. Du darfst, auch wenn du erschrickst, keinen Laut von dir geben", sagte sie und ließ den Burschen vor sich hergehen.

Da stürzte ein riesiger schwarzer, laut bellender Hund auf ihn zu und sprang ihn an. Mit seinem Stab schlug er auf den Hund ein, bis das Tier heulend davonlief. Die erste Aufgabe hatte er bestanden. Bald darauf raste ihm ein wütendes Wildschwein entgegen, das drehend die Hauer senkte. Er sprang zur Seite. Da war der Spuk vorbei. Zuversichtlich schritt er weiter. Plötzlich ließ sich ein armdicker, schlangenähnlicher Wurm von einem Baum auf ihn herab, um schlang, ihn und drohte ihn zu ersticken. Da preßte sich ein Schmerzenslaut über seine Lippen. Die schwarze Frau hinter ihm begann zu klagen: "Du hast mich nicht erlöst. Nun muß ich noch lange leiden. Sieh her, diese kleine Tanne! Wenn sie ein großer Baum geworden ist, wird ein Mann kommen und sie umschneiden. Aus den Brettern wird eine Wiege gezimmert werden. Der erste Knabe, der in der Wiege liegen wird, ist zum Priester berufen. Erst wenn er seine erste heilige Messe liest, bin ich erlöst." - Viele Jahrzehnte vergingen, aus der Tanne war ein mächtiger Baum geworden. Die Vorhersage erfüllte sich. Eine Wiege wurde aus den Brettern des Baumes angefertigt, und der erste Knabe, der darin lag, wurde Priester. Seit er seine erste Messe gelesen hatte, war die schwarze Frau vom Burgstall nicht mehr gesehen worden.


Quelle: Gottlieb Schweiger, Der Burgfried Stall - Die Geschichte der Gemeinden Rangersdorf und Stall, Stall 1978, Seite 172 f.