Maria Sechsfinger.

Vom Markte Aggsbach führt ein wunderlieblicher, schattiger Waldweg in sanfter Steigung zum Wallfahrtsorte Maria Laach am Jauerling. Ist ein gemächlich und mühelos Wandern nicht zweier Stunden durch einen "Naturpark von herzerfreuender Schönheit. Balsamische Luft haucht der Bach aus, daß man tiefwohlig aufatmet, so man im Hochsommer aus sengendem, blendendem Glast eintaucht in den Waldesschatten, tiefgrüne Matten erquicken das Auge, da und dort weckt ein einsam Gehöfte in seinem weltfernen stillen Glück die Sehnsucht nach ruhsamer Abgeschiedenheit von all dem Getümmel und Getriebe der Stadt, die verzehrende Sehnsucht nach jenem Frieden, den wir, da er im furchtbaren Weltkriege verloren ging, erst schätzen gelernt haben.

Die Kirche selbst birgt seltene Kunstschätze, so im Hochaltar ein Meisterwerk der Holzschneidekunst, eine zierliche Kanzel in ausgeglichener Gotik, ein Grabmal des 1603 verstorbenen Freiherrn von Kuefstein und auf dem linken Altar das Gnadenbild, ein altes Gemälde der Himmelsmutter, deren rechte Hand sechs Finger hat.

Es heißt, es sei dies ein Versehen oder nach anderen eine Bosheit des unbekannten Malers gewesen. Darauf aufmerksam gemacht oder seines Mut willens halber zur Rede gestellt, habe er erstlich gemeint, das mache nichts, die Bauern könnten ohnedies nicht so weit zählen, sodann aber versucht, den sechsten Finger zu übermalen. Selber sei aber immer wieder zum Vorschein gekommen.

Die Sechsfinger-Muttergottes
Gotisches Altarbild, um 1475, Tempera auf Holz, wahrscheinlich von Johann Wilhelm von Kuefstein 1636 nach Maria Laach gestiftet. Thronende Maria mit Kind, die rechte rosenkranzhaltende Hand mit 6 Fingern, hinter der glatten Thronarchitektur unten betende, oben musizierende Engel (Quelle: DEHIO Niederösterreich, Nördlich der Donau, S. 716).
© Harald Hartmann, Juli 2006

Und so heißt denn die Kirche bereits in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts und bis auf den heutigen Tag im Volke "zu unserer lieben Frau Sechsfinger".

Und noch etwas: Die liebe Gottesmutter sieht, wie jedes Kind weiß, vom Himmel herab all der Menschen Tun und Treiben und aller Menschen Werke, und so sah sie auch ihr durch des Malers Lässigkeit oder böses Wollen verunstaltet Bildnis. Da mußte sie, als des Herren demütige Magd jeder Eitelkeit bar, unwillkürlich lachen, und so heißt denn der Ort um die Kirche bis zum heutigen Tage "Maria Laach".

Quelle: Wachausagen, Erzählt und allen Freunden der goldenen Wachau gewidmet von Josef Wichner. Krems an der Donau. [1920]. S. 47 - 48.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Lisa Lemberg, Jänner 2005.

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Bei drei einheimischen Männern, die in einem Gasthaus in Maria-Laach saßen, erkundigten sich zwei Besucher nach den sechs Fingern der Muttergottes, und erhielt erst einmal folgende Antwort:

„Der Künstler, der beauftragt war, das Werk zu malen, war nicht aus dieser Gegend und umso mehr schmeckte ihm der Wein aus der Wachau. Als das Bild schon fast beendet war, machte er eine Pause und ging wieder einmal ins nahe gelegene Wirtshaus, um sich zu stärken. Nachdem er auch dem Wein kräftig zugesprochen hatte, wankte er wieder zum Bild und beendete benebelt sein Werk. Wieder nüchtern, sah er, dass er der Muttergottes nun sechs Finger gemalt hatte. Trotz seiner Versuche, den sechster Finger zu übermalen, kam er jedoch immer wieder hervor und so blieb sie bis heute die ‚Sechsfingrige’“.

Ein zweiter Gast fügte hinzu:
„Mir wurde erzählt, dass der Gründer der Kirche und Auftraggeber des Muttergottesbildes, Wilhelm von Kuefstein eine freundliche Madonna haben wollte. Der Maler konnte jedoch nur im Stil seiner Zeit, der Gotik malen: Lange Gesichter und ernste Minen. Wilhelm von Kuefstein ließ den Künstler das Bild mehrfach neu malen, aber es kam immer nur eines heraus: Lange Gesichter und ernste Minen. Nach dem x-ten Versuch wurde er dem Künstler zu bunt und er malte der Madonna einfach sechs Finger, dass die Menschen wenigstens so etwas zu lachen haben“.

Hier mischte sich die Wirtin in das Gespräch und ergänzte:
„Unser in der 1990er Jahren verstorbener Gemeindearzt, Dr. Stanek ging der Herkunft dieser sechs Finger auf den Grund und kam zu folgen Ergebnis: Die Tochter des Stifters litt von Geburt an an einer Missbildung der rechten Hand. Sie hatte sechs Finger. Das kommt heute auch noch hin und wieder vor, wird aber gleich nach der Geburt operativ behoben. Damals war das etwas Dämonisches. Um seinem Kind zu helfen, ließ er das Muttergottesbild mit sechs Fingern malen, mit der Hinweis dass aus der sechsfingrigen Hand umso mehr Segen ausströmt. Das Kind war dadurch nicht mehr dämonisch, sondern etwas Besonderes.

Das Wort 'Laach' stammt ausserdem nicht von der Sage, nach der Maler der Madonna einfach sechs Finger machte, dass die Menschen wenigstens so etwas zu lachen haben. Es kommt von 'Lohe', einer alten Bezeichnung für Eichenrinde, die hier gewonnen wurde und deren Gerbstoffe zur Lederherstellung genutzt wurden“.

Dieses Gespräch fand im Gasthof „Grüner Baum“ in Maria Laach am 19. März 2008 statt.

Quelle: Harald Hartmann und Oksana Fedotova, März 2008