Die Völkerwand.

Zwischen Weißenkirchen und Dürnstein ragt aus den bewaldeten Höhen des Sandlberges eine eigentümliche Felsgruppe auf. Völkerwand nennen die Leute das seltsame, an ein zerfallenes Schloß gemahnende Gebilde.

Hier stand vor Zeiten eine gar herrliche Ritterburg. Die Frevel der Bewohner aber forderten die Strafe des Himmels heraus und eines Tages versank das Schloß mit allen Insassen und Schätzen in die Tiefe, und den Seelen sollte erst Erlösung werden, wenn einmal ein Menschenkind sieben Jahre in den unterirdischen Gemächern zugebracht hätte.

Alljährlich am Palmsonntag öffnete sich der Fels, und so wagte sich denn einmal ein armes Mütterlein mit ihrem dreijährigen Bübchen in die unheimlichen Räume und stand bald geblendet in einem Kellergewölbe, das von edlem Gestein taghell erleuchtet war. Die Wände glitzerten in allen Farben des Regenbogens und auch des gemünzten Geldes, Gold, Silber und Kupfer war in großen Bottichen in schwerer Menge vorhanden. Schnell entschlossen tat das Weiblein einige kühne Griffe in den Silberhaufen, vergaß aber in der Eile des Zusammenraffens und der Flucht des Kindes, die Felsentore schlugen hinter ihr donnernd zu und ihr Liebstes mußte sieben Jahre eingeschlossen bleiben.

Wie hätte da die bedauernswerte Mutter ihres Besitzes froh werden können! Wie schrecklich langsam schlichen die Jahre dahin, und wie hastete die Frau nach endlichem Verlaufe der bestimmten Frist den Berg hinan, süße Hoffnung und zitterndes Bangen zugleich im Herzen. Und siehe, weit offen stand das Felsentor und sie fand den Knaben wohlerhalten und prächtig gediehen und zudem noch einen Beutel voll des gleißenden Goldes, das sich jedoch alsbald in wertlose Kiesel verwandelte, als sie, in weiblicher Neugierde die Warnung mißachtend, sich auf dem Heimwege umschaute und gerade noch gewahrte, wie die erlösten Geister in einer rosigen Wolke zum Himmel emporschwebten.

Sie aber hatte ihren besten Schatz, ihr Kind, wieder und so war sie glücklich in ihrer Armut.

Quelle: Wachausagen, Erzählt und allen Freunden der goldenen Wachau gewidmet von Josef Wichner. Krems an der Donau. [1920]. S. 70 - 71.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Lisa Lemberg, Jänner 2005.