9. Das Erdmandl in der alten Ried.

"D‘ alde Riad" nennen die Leute das rebenbepflanzte Hügelland bei Ollersdorf. Es liegt abseits von der Straße und den Wohnungen der Menschen. Der Ebenthaler Wald begrenzt es im Westen, und knapp am Rande steht ein Waldstock, umwuchert von Dornengestrüppe, an welchem von Zeit zu Zeit Blutflecke sichtbar wurden. Diese rühren von einem Morde her, und an der Stelle soll es nicht recht geheuer sein. Man will hier nämlich an warmen Sommerabenden s' böse Erdmandl sehen. Eine kleine plumpe Gestalt mit dürren Armen und langen Fingern. Der Kopf voll schneeweißer Haare und mit einer roten Zipfelmütze bedeckt. Die Stirne runzelig, die Wangen hohl und gelb wie verregnetes Heu. Die Lippen welk, die Augen tief in blauroten Hohlen. So zeigt er sich an Sommerabenden und scheucht mit der Peitsche die Eulen in den Felsritzen auf. In seiner Gesellschaft begegnet man auch bisweilen der Waldhexe Drino, einer hässlichen und boshaften Alten. Der erwähnte Waldstock dient ihnen als Speisetisch. Ihre Schlafstatte kennt niemand. Jedermann sollte sich hüten, deren Revier ohne geweihte Gegenstände zu betreten. Ein tollkühner Bauernknecht aus Ebenthal hat es einmal einer Wette halber versucht: Er ist nicht mehr heimgekommen, sondern ein Jäger sah ihn mit umgedrehtem Halse unter einem Hirschbarren liegen. Ebenso soll es der Küsterin aus Stillfried ergangen sein. Im Übermute verunreinigte sie den verhexten Waldstock und ward zur Strafe vom Erdmanderl daran gebunden, während Drino sie mit glühenden Nadeln stach, bis sie elend umkam. Besonders hat es aber s’ Erdmandl auf gewissenlose Anrainler abgesehen. Sie stolpern über einen verhexten Grenzstein, brechen ein Bein und werden vom Erdmandl erwürgt. Ein Ziegenjunge soll einmal einen solchen Unglücklichen gefunden haben. Der galt dazu noch als der reichste Bauer im Dorfe.

Hans Schukowitz, Mythen und Sagen aus dem Marchfelde. Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Wien, II/1896, S. 71-72 (Anrainler = Leute, die Feldgrenzsteine versetzen oder vom fremden Grunde wegackern, sie heißen auch Marchegger);

Quelle: Sagen, Schwänke und andere Volkserzählungen aus dem Bezirk Gänserndorf. Hans Hörler, Heinrich Bolek, Gesammelt von der Lehrerschaft des Bezirkes Gänserndorf 1951. Neuauflage 1967.
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