35. Die sprechende Katze.

Ein Bauer hatte mehrere Töchter, die auf ihre Sonntagskleider besonders heikel waren. Nach jedem Sonn- und Feiertag wurden sie gereinigt, gebügelt und sorgsam im Schrank verwahrt. Wie erschraken sie daher, als sie eines Tages ihre schönen Kleider anziehen wollten und sahen, dass sie jemand getragen haben musste, denn sie waren arg zerknittert. Da niemand im Hause war, wenn sie auf das Feld gingen, und Tür und Tor immer wohl verschlossen gehalten wurden, konnte man sich den Vorfall nicht erklären. Als es öfter geschah, legten sie sich auf die Lauer, um die vermeintlichen Einschleicher auf frischer Tat zu ertappen. Doch es war vergeblich und die Sache konnte nicht aufgeklärt werden. Nach längerer Zeit - man hatte sich inzwischen an die immer wieder zerknitterten und irgendwie benützten Kleider gewöhnt - saß einmal die ganze Bauernfamilie und das Gesinde bei Tisch. Auf einem unbenützten Stuhle saß die Katze und schlief behaglich schnurrend. Plötzlich machte sie wie im Traume eine Bewegung und rutschte mit der Pfote von der Stuhlkante aß. Mit einem unwillkürlichen Ruck zog sie im Halbschlaf die Pfote wieder zurück und sagte laut und vernehmlich: "Hoppla, jetzt wär' ich gleich 'nunterpurzelt!" Was Wunder, dass den Leuten, als sie die Katze wie einen Menschen reden horten, der Bissen im Halse stecken blieb, so sehr erschraken sie. Alle waren sich darin einig, dass diese Katze eine Hexe sein müsse, und in ihrer Aufregung gingen sie her und erschlugen das unheimliche Tier. Doch siehe da, von nun an blieben die Sonntagskleider der Tochter des Hauses unberührt. Also war die Katze wirklich eine Hexe! Denn nur sie konnte, wenn alle Hausbewohner auf dem Felde waren und das Haus wohl verschlossen war, die Kleider getragen haben, um ihrer Eitelkeit zu frönen.

Lehrer Robert Zelesnik, Hohenau;

Quelle: Sagen, Schwänke und andere Volkserzählungen aus dem Bezirk Gänserndorf. Hans Hörler, Heinrich Bolek, Gesammelt von der Lehrerschaft des Bezirkes Gänserndorf 1951. Neuauflage 1967.
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