10. Das Wassermandl.

Als einmal einem Knaben sein liebes Schwesterchen vom bösen Wassermännchen gestohlen wurde, war der Kleine unendlich traurig. Er weinte so viel um die Arme, dass seine Augen blutrot unterlaufen waren, und jeden Tag ging er zur Kapelle des hl. Nikolaus, und den bat er so innig, wie er nur bitten konnte, er möge ihm doch zeigen, wohin das garstige "Wassermanderl" sein gutes Schwesterlein getragen habe. Und wirklich unterwies ihn der Heilige in der Sache. Er sollte frühmorgens hinab zur March-Au gehen, sich mit dem rechten Ohr auf den Rasen legen und unverwandt ins Schilf hineinschauen. Dabei dürfe er aber nichts reden und nicht räuspern, ja wenn er's zusammenbrächte, möge er den Atem einhalten.

Das Knäblein tat nun, wie ihm aufgetragen ward. Und wie es so neugierig dalag, da hörte es auf einmal ein Summen und Surren im Wasser drinnen, als wenn tausend und tausend Brummfliegen vorüberflögen. Dann bildeten sich zahlreiche Ringlein, große und kleine, auf der Oberflache, und glitzernde Fischlein schnellten im Sonnenlichte empor. Jetzt säuselte und orgelte es melodisch zwischen den hohen Schilfhalmen; es kam immer näher und näher - die Stämmchen bogen sich von selber auseinander und aus dem Nebel wirbelte eine schier endlose Schar winziger Männchen empor. Die hatten lauter spangrüne Mützen auf den Köpfchen und trugen buntfarbige Muscheln auf goldgelben Schälchen in ihren Händen. Sie winkten und deuteten einander zu und wispelten so leise miteinander, dass es niemand hören konnte. Nun spannten sie ein großes, grasgrünes Netz über die Schilfinsel und brachten ein wunderschönes Mädchen in einem himmelblauen Bettchen empor. Das war so lieb wie ein Englein. Und es schlief. Wie nun das Bettchen aufgestellt war, zupften sie ganz wenig an dem blinkenden Kisschen - und klapp, schlug die schöne Braut ihre klugen Äuglein auf. Mit diesen blickte sie aber die kleinen Gesellen so fremd und traurig an, und wie schön sie ihr auch taten, es erfreute sie nichts - weinend streckte sie die kleinen, zarten Hände nach dem Ufer aus, und es war, als wollte sie dort den kleinen Lauscher, ihr Brüderchen, umarmen. Da schrie das Knäblein jäh auf: "Schwesterl, mein gutes Schwesterl!" Und husch! war aller Zauber verschwunden. Die Wellen der March schlugen plätschernd an das Sandufer, und ein feuchter Wind säuselte durch das schwankende Schilf.

Hans Schukowitz, Mythen und Sagen aus dem Marchfelde. Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Wien, II/1896, S. 69-71, Marchfeld;

Quelle: Sagen, Schwänke und andere Volkserzählungen aus dem Bezirk Gänserndorf. Hans Hörler, Heinrich Bolek, Gesammelt von der Lehrerschaft des Bezirkes Gänserndorf 1951. Neuauflage 1967.
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