DIE WIEGE AUS DEM BÄUMCHEN BEI BADEN
Über dem reizenden Baden unweit Wien erheben sich im Sankthelenentale auf bewaldeten Felsenbergen die romantischen Trümmer dreier Schlösser: Scharfeneck, Rauenstein und Rauheneck.
In den Trümmern der letztgenannten Burg liegt ein großer Schatz vergraben, den zu heben jedoch noch niemand vermochte. Der Ritter, welcher den Schatz in die Tiefe senkte, knüpfte an ihn eine Verwünschung, indem er auf der Zinne des hohen Wartturmes einen Kirschkern in ein wenig Erde senkte.
"Dem Priester", so sprach er, "soll einst dieser Schatz werden, der in einer Wiege geschaukelt wird, welche aus dem Kirschbaume gefertigt worden, der aus diesem Kern erwächst. Verdorret das Bäumlein oder bricht es ein Sturm oder eine Menschenhand, so soll der Schatz nicht eher gehoben werden können, bis ein Vogel aufs neue einen Kern auf den Turm getragen, aus diesem ein Baum geworden und die übrige Bedingung erfüllt wird."
Auf der Mauer des Turmes der Ruine Rauheneck sprießt das schwache Reis eines Kirschbaums, und es wird noch lange dauern, ehe des alten Ritters Verheißung sich erfüllt. An der Stelle aber, wo der Schatz vergraben liegt, sieht man mitternachts hüpfende Flämmchen, und der Geist des Ritters umschleicht die Trümmer ächzend und klagend, denn er selbst ist nun gebannt an die Erfüllung.
Quelle: Volkssagen, Mährchen und Legenden
des Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840