Da Thomerl...

Für die Menschen ist es wohl am Besten, wenn sie ihm nicht begegnen; weiß man doch nie so ganz genau, was in ihm vorgeht und was er plant. Eingehüllt in einen dicken Pelzrock und hohen Stiefeln watet er alljährlich am 21. Dezember umher. Man erkennt ihn auch an seinem langen, weißen Bart dessen Ende in zwei Spitzen auslaufen. Sein Gesicht ist das eines alten Mannes, versteinert ohne Mimik, ohne menschliche Regung. Auf dem Kopf thront ein mächtiger, spitzer Hut mit schlapper, breiter Krempe. Keine Wort sagend setzt er einen Fuß vor den anderen. Markant für ihn ist sein hölzerner, gekrümmter Wanderstab. Unter seiner linken Achsel trägt er ein altes, vergilbtes, dickes Buch. Früher warnte man Kinder wie Erwachsene davor in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember nicht zu lange draußen zu sein, denn ansonsten „schreibt oan da Thomerl af“. Jeden den der Thomerl in sein dickes Buch schreibt muss im nächsten Jahr sterben. Ansonsten ist er friedlich. Von Haus zu Haus geht er seinen Weg und klopft an die Fensterscheiben der Stuben des Landes. Klopft er nur einmal, ist der Kelch des Todes für die Einwohner im nächsten Jahr vorüber gegangen. Passiert es aber, dass er mehrere Male klopft und mit seiner steinernen Fratze durch das Fenster in die gute Stube blickt, dann wird jemand der Hausbewohner im nächsten Jahr sterben. Er ist auch kein Freund von Kindern, denn erwischt er solche packt er sie, nimmt sie mit sich und ertränkt sie im nächsten Weiher. Kehrt er drei Mal ums Haus, werden die Kinder im Hause krank und müssen sterben. Angeblich soll er ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden sein – vielleicht ist er geflohen vor der Übermacht der Moderne. Aber es könnte auch sein, dass er trotzdem noch umgeht, nur die Menschen nicht den Mut haben zuzugeben, dass sie ihm begegnet sind. Alte Leute wissen, dass er keine Märchengestalt ist, denn sie haben ihn noch gesehen, und ihr ganzes Leben lang werden sie seine Gestalt nicht mehr vergessen können. Es soll auch Menschen geben, die ihm ebenfalls des nachts begegneten und welche er einen Blick in sein Buch gewährte, seither ist jede Hoffnung aus ihren Gesichtern verschwunden.

Quelle: Handwörterbuch des dt. Aberglaubens, Samhaber Maria, o. J.
Roger Michael Allmannsberger, Sagen aus Enzenkirchen, Teil 1.