Frau Beri...

Wenn ich heute noch ab und zu das Buch „Struwwelpeter“ durchblättere, bleibe ich meist bei der Geschichte mit dem „Daumenlutscher“ hängen und auch heute noch steigt ein leichtes Unbehagen in mir hoch, wenn ich den Schneider ansehe, der die Tür hereinstürzt und mit seiner riesigen Schere dem Jungen beide Daumen abschneidet. Und wenn ich Grimms Märchen anschaue, dann habe ich immer ein ähnliches Gefühl bei der Geschichte vom „Wolf und den sieben Geißlein“, als dem Wolf der Bauch aufgeschnitten, mit Steinen voll gestopft und wieder zugenäht wird. Diese beiden Szenen wecken in mir immer eine Erinnerung an die vergangene Kindheit; an eine Schreckensgestalt der elterlichen Fantasie, die früher in vielen Kinderköpfen herumspukte und ihnen des Nachts Angst bereitete – und zwar jene der wilden Frau Beri. Die Alten erzählten, dass man dieser früher am Abend Speisen, vor allem Brot- und Käsereste, Körner und Nüsse, und zusätzlich Getränke in Form von Bier und Milch vor die Haustüre stellte, damit sie das Heer der toten, ungetauften Kinder ernähren konnte, die sie anführte. Niemand wollte oder sollte sie besser zu Gesicht bekommen, zu hässlich soll ihr Antlitz sein, mit langen Zähnen und einem Buckel. Gottseidank ging sie nur in den schwärzesten Nächten des Jahres um, in den so genannten Zwölfnächten oder den Rauhnächten. Die lebenden Kinder sollten sich ja nicht dem Müßiggang hingeben und der Faulheit frönen, denn diese bestraft die Frau Beri gar fürchterlich, indem sie den betreffenden Kindern den Bauch aufschlitzt und Steine und Häcksel hinein füllt. Jedenfalls danke ich allen höheren Mächten, dass sie und ihr Heer der toten Kinder mir niemals über den Weg liefen. Wer weiß, ob ich ansonsten diese Zeilen jemals geschrieben hätte!?

Quelle: Handwörterbuch des dt. Aberglaubens
Roger Michael Allmannsberger, Sagen aus Enzenkirchen, Teil 1.