Da ewige Jud…

Über die Witraun unweit des heutigen Hauses der Familie Koller führte einst, als der Bach noch nicht dem Wahnsinn der Regulierung anheim gefallen war, der „Judensteig“. Einst versammelten sich dort die Juden um ihre Feste zu feiern, wie wir ja schon gehört haben. Einem Tag vor einem solchen Fest, es soll sich einige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg zugetragen haben, ging eine jüdische Mutter und ihre zwei Kinder einkaufen nach Raab und kamen erst spät am Abend, als schon die Dämmerung eingesetzt hatte, nach Enzenkirchen zurück. Sie wohnten in einem Haus irgendwo in Mühlwitraun und daher hatten sie vom Ort doch noch einen kleinen Weg zurückzulegen. Sie folgten dem alten Kirchensteig beim Buchinger vorbei, entlang der Witraun, dort vorbei, wo sich heute das Haus unseres Gemeindearztes befand. In der Nähe des Dichtl überquerten sie einen kleinen Steg, der zu dieser Zeit etwas weiter Bachaufwärts stand, also nicht dort wo wir heute die Brücke finden und sie nahmen den Weg nach Mühlwitraun, der auch heute noch benutzt wird. Es lagen bereits dichte Nebelschwaden über der Gegend, trotzdem sahen sie aber schon von der Ferne eine Gestalt auf dem Stein sitzen, der mitten im Bett der Witraun lag und mit dem man den Bach überqueren konnte – also dem Judensteig. Für die Kinder war das Steifen auf diesen Stein immer besonders lustig. Dort auf dem Stein mitten im Bach saß, wie bereits erwähnt, eine Gestalt, genauer gesagt ein tief gebeugter alter Mann mit krummen Rücken und einem langen weißen Bart, in seiner Rechten hielt er einen schon ziemlich abgenutzten Wanderstab, auf den er sich etwas stützte und mit der Linken massierte er sich seinen rechten wund gelaufenen Fuß, neben dem eine durchgetretene uralte Sandale lag. Vermutlich ein Vagabund, der sich am kalten Wasser der Witraun etwas laben und auf dem Stein etwas ausruhen will, dachten sie sich; und die anfängliche doch spürbare Angst vor dem Unbekannten wich einem Gefühl der Entspannung und des leisen Mitleids mit dem armen Mann. Schon von weitem grüßte ihn die Mutter und ihre Kinder folgten ihrem Beispiel mit etwas Verzögerung. Kurz darauf erwiderte der Mann mit einem etwas eigenwilligen Akzent den Gruß. Nahe am Stein angelangt bot ihm die Mutter ihre Hilfe an, hatte sie doch in der Apotheke eine Wundsalbe gekauft und etwas hochprozentigen Schnaps zum einreiben für müde Muskeln. Dankbar und mit einem leisen Lächeln nahm der alte Mann ihr Angebot an, während ihn die Kinder etwas scheu aber doch neugierig von oben bis unten musterten. Interessant fanden sie vor allem seine doch schon sehr antiquierte Kleidung aus groben Stoff und bemitleidenswert sahen sie sein krummes Rückgrat, das wohl schon ein schweres Schicksal zu tragen hatten, genauso abgeschunden wie sein Rücken waren auch seine alten, ledernen, wundgescheuerten Hände an denen man durch die Haut hindurch die bleichen, gebrechlichen Knochen erahnen konnte. Neben einer dieser Hände lag noch immer seine alte Sandale, die schon sehr alt gewesen sein musste, denn gut konnte man erkennen, dass sie noch handgefertigt waren. Vor allem die Frau erkannte dies sofort, war doch ihr Großvater noch Schuster der alten Schule gewesen und produzierte er ähnliche Erzeugnisse. „Tja, schon lange ist es her, als ich diese selbst gefertigt habe. Ich weiß gar nicht mehr wie lange. Das war noch damals in meiner alten Heimat, weit weg von hier.“ Sagte der Alte mit schwacher, kraftloser Stimme. „Wo war das denn?“ erkundigte sich neugierig die Tochter. „In einem Land mehrere tausend Kilometer von hier, dem Land meiner Väter und auch deiner Vorfahren mein Kind.“ Antwortete er mit einem leisen Lächeln, das an das Mädchen gerichtet war. „Sie meinen wohl aus Palästina?“ mischte sich jetzt die Mutter in das Gespräch ein, wenn sie dabei auch etwas skeptisch blickte, während sie dem Mann weiter seine Füße massierte. „Ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber einst wurde ich dort geboren und kurz darauf vertrieben. In dem uns versprochenen Land, sind wir heute nicht mehr gern gesehen…“ – „Sie waren also Schuster, wie mein Urgroßvater?“ wollte nun der Junge wissen. „Ja, damals war ich es noch – bis ich IHN dort traf!“ – und der Mann zeigte auf ein Flurkreuz, dass sich einst noch auf der Kuppe in der Nähe des Gutes Reisinger befand. „…als ich IHN traf, hat sich mein ganzes Leben verändert!“. Während die Kinder den alten Mann mit großen verwunderten Augen ansahen, deutete ihnen ihre Mutter mit einer eindeutigen Geste an, dass der Mann wohl nicht ganz bei Trost sei, was der aber nicht bemerkte, waren doch seine Augen auf die Kinder gerichtet. „Mein Name ist Cartaphilus, manche nennen mich auch Buttadeus. IHM…“ Nun zeigte er mit seinem Zeigefinger eindeutig auf das Flurkreuz, „…habe ich mein Schicksal zu verdanken. Aus Hochnäsigkeit und leichter Schadenfreude gönnte ich IHM keine Rast vor meiner alten Werkstätte. ER der sich arrogant als Sohn Gottes bezeichnete. Hätte ich damals geahnt welcher Natur ER wirklich ist, dann hätte ich mich wohl anders verhalten, aber nichts. Von wegen 'Liebe deinen nächsten, so wie dich selbst!', auf ewig verdammt hetze ich seither durch Raum und Zeit und nur an bestimmten Stellen ist mir etwas Rast gegönnt…“ Die Mutter beendete abrupt ihre Pflege, packte eiligst ihre Sachen, erhob sich, und deutete den Kindern, dass sie nun aufbrechen werden. Der Alte aber ließ sich nicht unterbrechen: „Seit ewigen Zeiten wandere ich und überall habe ich Verwandte und Freunde bei denen ich willkommen bin, aber bald wird sich die schwarze Sonne über der Hister erheben und ganz Hyperborea verbrennen. Vom blühenden Zion des Nordens wird nur noch Ödnis bleiben, eiserne Pferde werden meine Brüder und Schwestern im Rachen des Molochs verbrennen…“ Nun machte er der Mutter und den zwei Kindern mehr als nur Angst, mit eiligem Schritt machten sie sich davon, um dem Irren zu entfliehen, der ihnen aber weiter nachschrie: „…das Firmament wird sich vom Tode schwärzen und blutgetränkt und braungebrannt wird sich Gaia vor Schmerzen winden. Juda wird erhängt sein an Ygdrasill und das Kainsmal werden Harmanns Söhne am Arme tragen, flieht aus Ägypten so lange der Zorn des Pharaos noch nicht entbrannt ist…“. Dies waren die letzten Worte, die die Drei noch vernahmen, dann verschwand der Mann im Dunkeln der Nacht und einzig das Rauschen der Witraun war noch zu hören. Erst Jahre später mussten sie erfahren, was der Alte ihnen sagen wollte, aber nur noch das Mädchen war damals übrig um seine Worte verstehen zu können und es der Nachwelt zu überliefern. Einige Jahre nach diesem mysteriösen Geheimnis erhob sich tatsächlich an der Hister, was Griechisch für Donau war, die schwarze Sonne in Form des Hakenkreuzes und verbrannte ganz Europa, also Hyperborea. Tatsächlich war der Himmel darauf schwarz von den in den Krematorien von Auschwitz oder Mauthausen verbrannten Menschen und die Erde der Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs war blutgetränkt und das europäischen Judentum am Wahnsinn des Nationalsozialismus beinahe zu Grunde gegangen. Blind und geblendet von einer unmenschlichen Ideologie sahen die Menschen tatsächlich nicht das Kainsmal in Form der Hakenkreuzschleife an ihrem Arm. Damals als der alte Mann ihnen diese Worte sagte, wäre wirklich noch Zeit gewesen zu fliehen, aber das alles wurde der Familie erst bewusst, als sie in den Wagons des eisernen Pferdes nach Mauthausen saßen. Einzig das Mädchen überlebte den Holocaust. Es war der ewige Jude Ahasver, jener Schuster aus Jerusalem der Jesus von seiner Schwelle verjagte, als dieser am Kreuzweg dort rasten wollte und von diesem Tag an bis zum Jüngsten Gericht über die Erde marschieren muss. Immer wieder tauchte er in der Vergangenheit auf, um die Menschen vor Unheil zu warnen, oder ihnen die Veränderung der Welt vor Augen zu führen. Irgendwo da draußen marschiert er auch heute noch.

Kommentar:

Da ewige Jud: Unweit des Hauses der Familie Koller in Mühlwitraun befand sich einst inmitten des damals noch unregulierten Baches ein Stein, der von der Bevölkerung Judensteig genannt wurde, weil dort einst die Juden ihre Feste feierten. Wohnhaft waren sie angeblich in einem Haus in Mühlwitraun, sie sollen aber schon in der Zwischenkriegszeit weggezogen sein. Überliefert von Wieder Franziska 2005.

Quelle: Roger Michael Allmannsberger, Sagen aus Enzenkirchen, Teil 2.