Das wilde Gjaid

Zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag, in den geheimnisvollen zwölf Rauhnächten, braust die wilde Jagd alljährlich über die schneeverhüllten Berge, Wälder und Ortschaften des Salzkammergutes.
Aus den Gebirgen des Ennstales kommen die unholden Geister auf Rossen und Böcken unter Geheul und Sturmessausen geritten. Am Dachstein macht die tolle Schar Halt. Da werden die verwünschten Sennerinnen aus ihren eisgrünen Kammern geholt und es geht zum schaurigen Tanz auf den Gosaugletscher und die Gjaidalm. Dann aber werfen sich der Anführer und die Windsbraut mit dem brandroten Haar und all die unseligen Jagdgesellen auf ihre Reittiere und lärmen auf ihren nächtliche Zügen über Goisern, die Ruine Wildenstein und Ischl nach Ebensee, um am Traunstein im anbrechenden Morgen die Jagd zu beschließen.
In alten Tagen hatte besonders Ischl zur Zeit der Rauhnächte vieles zu leiden. Deshalb wurden am rechten Traunufer die Heiligkreuzkapelle und im Herzen der Stadt die Lindenkapelle errichtet, um den höllischen Geistern den Weg zu versperren. Seitdem hat Ischl Ruhe von der gefürchteten Schar und hört sie nur ab und zu von ferne vorbeistürmen.
Am besten ist es wohl, in diesen Tagen zu Hause zu bleiben. Denn kommt ein Mensch dem wilden Gjaid in die Quere, der muß unbedingt mit!
So erging es auch einmal einem Spielmann aus Goisern, der zu Silvester einer fröhlichen Runde zum Tanz gegeigt hatte. Als er in später Nachtstunde heimzu eilte, kam der heidnische Schwärm daher und schleppte den Armen durch die eiskalten Lüfte mit sich fort bis zum Traunstein, setzte ihn am tiefverschneiten Gipfel hin und stob mit gräßlichem Gelächter nach allen Windrichtungen auseinander.
Als der Geiger am Neujahrstag unter Mühe und Gefahr endlich den Abstieg bezwungen und Gmunden erreicht hatte, war sein Haar schneeweiß geworden. Er mochte nichts Näheres über sein nächtliches Erlebnis aussagen; sicher ist nur, daß man ihn sein ganzes Leben nie mehr lachen sah!
Ähnliches widerfuhr vorzeiten aber auch gar manchen Fleischhauern, Traunreitern und Bergknappen, die jahrüber das Schelten und Fluchen nicht lassen konnten. In den Rauhnächten wurde ihnen von der wilden Jagd der verdiente Lohn zuteil!
Das Anbrechen eines neuen Morgens scheut die gespenstische Schar; deshalb horcht die Windsbraut ängstlich auf den ersten Hahnenschrei, der im Tal unten laut wird, und ruft dem Anführer warnend zu, daß ein weißer Hahn krähe. Der aber entgegnet: "Weißer Hahn? Geht mich nichts an!" und stürmt weiter durch die weichende Nacht. Und meldet sie einen roten Hahn, so wird ihr die Antwort: "Roter Hahn? Toter Hahn!" gegeben. Kündet sie jedoch entsetzt, daß sie das Krähen eines schwarzen Hahnes vernimmt, dann schreit der wilde Jäger furchtbar auf: "Schwarzer Hahn? Jetzt muß ich dran!"
Und kopfüber stürzt er sich samt seinem heulenden Gefolge in das nächstgelegene Wildwasser oder in den dunklen Traunsee.
Golden steigt die Sonne empor - und der Geisterspuk ist beendet!

Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981