Geheimnisvoller Jainzen

Der Jainzen, der väterlich über sein liebes Ischl wacht, ist nicht irgendein gewöhnlicher Berg, von dem man etwa nichts erzählen könnte. Mag er auch mit waldigen Hängen, bemoosten Felsblöcken und steilem Gipfel ausschauen wie manch anderer, so umschließt er dafür in seinem Inneren ein gar seltsames, märchenhaftes Reich.
Findet ein Sonntagskind in einer Lichtmeßnacht den verborgenen Eingang, der in den Jainzen geleitet, dann gibt es viel zu bestaunen! Die schimmernden Höhlenwände des Berges ruhen nämlich auf drei unbeschreiblich starken goldenen Säulen, die auch das riesige Gewölbe tragen. Im Mittelpunkt der mächtigen Halle liegt ein kristallklarer See, dessen Ufer mit feinem himmelblauen Sand bedeckt sind. Aus dieser Halle führen lange Gänge in die Kammern, Gemächer und Werkstätten der Jainzenzwerge. Über enge Wendeltreppen geht es auch hinauf in höhere Stockwerke. Nahe beim Jainzengipfel haben die Wichtelmännlein ein ertragreiches Silberbergwerk, das durch eine flache Steinplatte mit der Außenwelt in Verbindung steht. Wüßte man nur die von Farnkraut, Efeu und Brombeerranken überwucherte Stelle! Denn dort wären große Schätze zu gewinnen!
In Vollmondnächten können Sonntagskinder die Zwerglein erspähen, wenn sie geschäftig ihre Wäsche ins Freie tragen, die sie im Jainzenbach waschen und schwemmen und im Mondlicht zum Bleichen auslegen. Eine ihrer Wichtelmützen sollte man erlangen, das wäre gut - da müßte einem der kleine Besitzer jeden Wunsch erfüllen! Aber man bekommt sehr selten eine zu fassen - denn hören die Jainzenzwerge auch nur das geringste verdächtige Geräusch, sind sie in einem Husch wieder in ihrer Halle drinnen! Der Jainzen ist aber auch ein Berg, den die Sonnenjungfrauen auf ihren Luftreisen gern aufsuchen. Ihre ständige Wohnstätte haben sie ja im Sonnstein bei Ebensee. Doch lieben es die wunderschönen Feengestalten, bald da und bald dort über dem Salzkammergut zu schweben und das Menschenvolk zu belauschen. Sie finden sich auch auf stillen, sonnigen Wiesen rund um den Jainzen ein, um sich ungestört im Reigen zu drehen.
Einmal konnte eine bettelarme Frau heimlich dem wundersamen Tanz zuschauen. Als er beendet war, faßte sie sich ein Herz, trat aus ihrem Versteck und bat die Schönste der Feen um eine milde Gabe. Die griff an ihren Goldgürtel und reichte dem Weibe einen Strähn Flachs zum Spinnen. Da wurde die Arme zornig über das geringe Geschenk; sie ballte die Faust und beschimpfte die holde Sonnenjungfrau mit wüsten Worten. Die Fee nahm daraufhin den Flachs wieder an sich und entschwand eilig mit ihren strahlenden Schwestern in den Lüften.
Die Bettlerin aber bereute ihre Ungenügsamkeit das ganze Leben lang; denn sie erfuhr von anderen Frauen, daß der Flachs, den die Sonnenjungfrauen spenden, nie ein Ende nimmt, soviel man auch davon spinnen mag. So hatte sie sich das eigene Glück verscherzt und vertan! Nun muß ich dir noch erzählen, daß auch der Teufel schon seit alter Zeit eine besondere Vorliebe für den Jainzen hatte. Oft saß er hoch oben am Gipfel und blickte hinab auf Ischl und über das weite Land. Und sah er irgendwo Unrecht, Habsucht und Lieblosigkeit, hörte er Streiten und Fluchen, dann freute sich seine schwarze Seele.
Aber eigentlich gab es für ihn weitaus mehr Ärger als Vergnügen! Schon das allein erzürnte ihn, täglich inmitten des Ortes die stattliche Kirche anschauen zu müssen. Mit großem Mißfallen bemerkte er auch, daß die Zahl der Kirchgänger dauernd zunahm. Als er außerdem noch feststellte, daß selbst die allerschlimmsten Salzschiffer und Traunreiter doch vor der Heiligkreuzkapelle die Kappen zogen und Stoßgebete murmelten, nahm er sich vor, die Traun mit Steinen zu verlegen und aufzustauen und damit ganz Ischl durch Hochwasser zu zerstören.
Gedacht - getan! Am frühesten Morgen ging er ans Werk, stürmte auf den Jainzen, löste einen mächtigen Felsblock vom Gipfel und warf ihn mit kräftigem Schwung in das Bett der Traun. Als er sich dann vorbeugte, um den Erfolg seiner Bemühungen zu bewundern, sah er mit Verdruß, daß dieses Felsstück zu klein gewesen war. Auf solche Art konnte die Traun niemals in ihrem Lauf aufgehalten werden!
So schaute sich der Böse grimmig nach weiteren Steinblöcken um, mit denen sich sein Ziel erreichen ließe; aber bevor er noch einen zweiten in die Tiefe schleudern konnte, hörte er das Geläute der Ischler Kirchenglocken, die zur Feier der Frühmesse riefen. Da stand er mit äußerstem Zorn von seinem Plane ab, stürzte brüllend über den Berg davon und wurde seither im Umkreis des Jainzen nicht mehr gesehen. Auf dem Teufelsfelsen inmitten der Traun ließ im Jahre 1856 die Postmeisterin Julie Koch ein schönes, hohes Kreuz setzen. Seitdem trägt der Felsblock den Namen Kreuzstein.
Das sind die Geschichten über den Jainzen, diesen geheimnisvollen Berg, die heute noch im Volk fortleben.

Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981