Der Ritt durch die Enns

Als im Jahre 1532 Sultan Soliman mit einem großen Türkenheer in Österreich einfiel, wurde Wien nicht belagert, wie drei Jahre vorher, wo sich die Türken durch die todesmutigen Verteidiger unter ihrem Feldhauptmann Grafen Niklas Salm an den Mauern der Stadt blutige Köpfe geholt, sondern diesmal teilte sich das türkische Heer in Scharen, die raubend und mordend durch die Lande zogen. Dreimal am Tage wurden, die Bevölkerung warnend, die "Türkenglocken" geläutet.

Der berüchtigte Kasim Pascha kam am 8. September mit 15 000 dieser Raubgesellen an den Grenzfluß Enns, wo sie in der Nähe von Ernsthofen lagerten. In mächtigen Kesseln brodelte das Fleisch der den Bauern geraubten Rinder und Schafe. Die Nacht war taghell beleuchtet durch die von den Türken in Brand gesteckten Bauernhäuser. Am Morgen des nächsten Tages bei dichtem Nebel übersetzte ein großer Teil der Türken die Enns und zog sengend und brennend, raubend und mordend in Richtung Steyr.

Ein anderer Trupp türkischer Reiter - es waren Janitscharen - ritt auf dem Sträßlein, das am rechten Ufer der wildrauschenden Enns am Fuße der lang sich hinziehenden Loderleiten läuft, flußaufwärts gegen Maria Burg. In Unterburg wollten sie auf ihren Pferden durch die Enns nach Oberösterreich hinüber, wagten es aber nicht, weil sie die Tiefe des Wassers nicht kannten. Da fragten sie einen gefangenen Bauern aus Unterburg, wo da am leichtesten hinüberzukommen wäre. Der zeigte ihnen eine seichte Stelle des Flusses. Da die Türken den Bauern für listig hielten, daher mißtrauisch und der Meinung waren, er wolle sie ins Verderben führen, so zwangen sie ihn, daß er selber zuerst hinüber- und herüber reite, wozu sie ihm ein Pferd, von dem ein Türke abgestiegen war, zur Verfügung stellten. Der Bauer schwang sich in den Sattel und ritt in den Fluß; wenn auch, wie es den Anschein hatte, Roß und Reiter in den Fluten schier versanken, sie kamen doch hinüber. Die Türken hielten aber ihre Waffen schußbereit für den Fall, daß der Bauer nicht herüber, sondern jenseits der Enns davonreiten sollte. Doch der Bauer wußte wohl, was ihm in diesem Fall blühen würde; er ritt daher auch wieder zurück. Darauf schenkten ihm die Türken Leben und Freiheit. Der Schwarm Türken ritt hierauf durch den Fluß, hinüber nach Oberösterreich.

Aus Dankbarkeit darüber, daß er mit dem Leben davongekommen, ließ der Bauer am Weg nach Unterberg eine Kreuzsäule setzen, die einen Schrein trug, in die er eine Statue stellte, und zwar Maria Hilf mit einem großen Halbmond zu ihren Füßen, den sie niedertritt. Diese Statue soll ein kunstgeübter Laienbruder vom Kloster Garsten aus Lindenholz geschnitzt haben. Diese Statue ist schon vor langer Zeit von dem verfallenen Marterl weggekommen.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 202
Emailzusedung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006