Die zwei Liachtln

Das Bauernhaus Pichler in Lahrndorf, Gemeinde Garsten, liegt auf dem Abhang eines Hügels, das Bauernhaus Zulehner liegt am Fuße dieses Hügels. An diese zwei Bauernhäuser knüpft sich eine Sage, die zu beweisen scheint, daß es früher einmal in bezug auf das Eigentum ein Gesetz, zumindest ein ungeschriebenes, gegeben haben muß, nach dem sich ein Bauer strafbar, wenigstens moralisch strafbar machte, wenn er sich Obst aneignete, das zwar auf seinen Grund gefallen, aber nicht ihm gehörte.

Es war vor mehreren hundert Jahren. Da standen auf dem besagten Hange Bäume, die alljährlich gute und schöne Äpfel trugen. Die Äpfel rollten, wenn sie reif waren und von den Bäumen fielen, den Abhang hinunter auf den Grund des Nambarn Zulehner. Dieser Bauer und sein Weib hätten die Äpfel gar so gern haben mögen; sie konnten sich die Äpfel nicht aneignen, weil sie dem Bauern Pichler gehörten. Nun setzte der Bauer Zulehner junge Bäume vor den Abhang hin, entnahm das Pfropfreis den Bäumen des Nachbarn Pichler ohne daß dieser davon wußte, und pfropfte es seinen Bäumen auf, damit er die gleichen Äpfel bekäme. Gewöhnlich zogen Nachbarn unter solchen Umständen immer verschiedene Sorten, damit sie die Frucht leichter auseinander kennen und deswegen nicht in Streit kommen konnten.

Als die jungen Bäume tragbar waren, sammelten die Zulehner­Leute fleißig ihre Äpfel und die Äpfel des Pichler, die den Abhang herunterrollten. Und sie freuten sich ihres Gewinnes.

Im Laufe der Zeit starben der Bauer Zulehner und sein Weib. Und alljährlich zur Herbstzeit erschienen immer zwei Lichtlein, die Nachts unter den Bäumen herumgaukelten und miteinander wispelten. Die zwei Lichtlein erschreckten die Leute so sehr, daß dort zur Nachtzeit niemand vorübergehen wollte. Die zwei Lichtln waren, wie die Sage erzählt, die Seelen des Bauern Zulehner und seines Weibes, die zur Strafe ihrer Habgier an dem Ort ihrer unschönen Tat ruhelos wandeln mußten, bis sie durch Gebet erlöst wurden.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 92
Emailzusendung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006