Der Meisterschütze von Losensteinleiten

Als im Jahre 1532 Sultan Soliman II. mit seinen Kriegerhorden in Österreich einfiel, kam der berüchtigte Renegat Michael Oglon, bekannt unter dem Namen Kasim Pascha mit 15 000 Janitscharen bis an die Enns. Am 9. September, einem Sonntag, übersetzten in dichtem Nebel bei Ernsthofen 5000 dieser Renner und Brenner auf ihren Pferden den Ennsfluß und drangen raubend und plündernd, Häuser in Brand steckend und Leute niedermetzelnd gegen Steyr herauf.

Die vor diesen Horden flüchtenden Bewohner forderten die Besitzerin der Burg Stadelkirchen, die Witwe Kerschbergerin, auf, alles liegen und stehen zu lassen, wenn ihr das Leben lieb sei und mit ihnen nach Steyr zu flüchten. Doch sie achtete nicht auf die Mahnung der Leute und sagte, sie wolle zu Mittag noch eine Spensau essen und sich dann erst nach Steyr begeben. Aber noch saß sie nicht bei ihrer Spensau, als die Mordbrenner über die nicht aufgezogene Zugbrücke der Wasserburg Stadelkirchen stürmten, die leichtsinnige Kerschbergerin erschlugen, die Burg plünderten und in Brand steckten, wie sie auch bei ihrem Vorstürmen die Kirche von Dietach plünderten und niederbrannten. Das Kloster Gleink wagten sie nicht anzugreifen, noch weniger die mauerumgürtete Stadt Steyr, in der zudem neben den bewaffneten Bürgern und Eisenarbeitern noch ein Fähnlein Kärntnerischer Reiter waren. Und so wandten sich diese Bluthunde, Greueltaten verübend, westwärts gegen Wolfern und Losensteinleiten. Sämtliche Bewohner der Burg waren mit anderen Leuten der Umgebung geflohen. Selbst der Besitzer der Burg, der Ritter Christoph III. von Losenstein, hatte mit seiner Familie die Burg verlassen. Nur ein alter Jäger, der seinen Ehrgeiz darein setzte, zu bleiben und die Burg zu verteidigen, blieb zurück. "Diesen Mordgesellen", sagte er, "werde ich so gut es mir möglich ist, einen blutigen Empfang bereiten". Seit Tagen schon hatte er von den umliegenden Kirchdörfern die Sturmglocken läuten gehört und des Nachts auf den Burgen die Warnfeuer brennen gesehen. Aber der alte Jäger hatte sich vorgenommen, in der Burg zu bleiben.

Es dauerte nicht lange, so kam ein stattlicher türkischer Heerhaufen angerückt; er lagerte mit viel Geschrei auf dem Leimannsdorfer Feld, unweit der damals sechstürmigen, mauerumfangenen Wasserburg Losensteinleiten. Das Zelt des Aga wurde bei der mächtigen Linde errichtet.

Der kluge und listige Jäger aber war schon fleißig gewesen und hatte alles Notwendige zum Empfang der brandschatzenden Horde vorbereitet. Er hatte schon früher Tor und Türen fest verschlossen, die Zugbrücke aufgezogen; der Rüstkammer hatte er Panzer und Helme entnommen und als hohle, eiserne Männer mit geschlossenen Visieren an die Fenster gestellt, dazu geladene Gewehre, Hackenbüchsen, Pulver und Blei gelegt. Der alte Jäger stand, das Gewehr in der Hand, trotz der gewaltigen Obermacht in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, ruhig auf seinem Posten. In der Hoffnung, reichliche Beute machen zu können, gingen die Türken mit wüstem Geschrei zum Sturm auf die Burg vor. Aber auch der einzige Verteidiger ließ sich nicht spotten. Er eilte von Fenster zu Fenster und schoß ein Gewehr nach dem anderen auf die anstürmenden Feinde ab. Und da jede Kugel aus wohlgezieltem Gewehre traf, wälzte sich jeder Getroffene auf fremder Erde in seinem Blute und stand nicht mehr auf. Manch einer, der die Mauer erklettert hatte, fiel, vom Blei des Jägers tödlich getroffen, tief hinunter in den Wassergraben.

Der Aga (Hauptanführer) der Türken, der auf seinem Schimmel, seine Leute anfeuernd, umherritt, machte kurz Halt und sah mit zweifelnder Miene hin auf die ihm etwas geheimnisvoll vorkommende Burg. In diesem Augenblick krachte aus einem der Fenster ein Schuß und der Aga sank, von der Kugel des Jägers mitten in die Brust getroffen, rücklings vom Pferde. "Das war ein feiner Blattschuß", sagte der alte Jäger in der Burg und freute sich über seinen Meisterschuß.

Als die Türken ihren Hauptanführer vom Pferde stürzen sahen, entstand wilde Verwirrung; sie glaubten, die Burg stecke voll geübter, treffsicherer Schützen. Sie verließen schleunigst den Kampfplatz. Der Jäger schoß ihnen noch einige Kugeln nach, die auch nicht ihr Ziel verfehlten. Als weit und breit kein Türke mehr zu sehen war, öffnete der Jäger das Tor, ging auf der niedergelassenen Zugbrücke aus der Burg. Er fing sich den prächtigen herrenlosen Schimmel, schwang sich in den Sattel und ritt freudevoll in die von den beutegierigen Feinden befreite Burg.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 178
Emailzusedung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006