Die Kapelle des Hl. Nikolaus

Eine und eine halbe Stunde flußabwärts von Steyr stand am linken Ufer der damals noch wild rauschenden Enns das von Ausflüglern und Naturfreunden gern besuchte Wirtshaus Heuriß, genannt das Wirtshaus bei der Überfuhr. Hier war eine Rollfähre, welche die Leute auf kleinem Boote von Haidershofen herüber und hinüber brachte. Auf den Bänken unter den hohen, mächtigen Kastanienbäumen, die im Mai so herrlich blühten, war es so angenehm zu sitzen und dem Gesang der Vögel und dem Getön des Wassers zu lauschen und hinüber zu sehen, wo auf erhöhtem Ufer die aus Quadersteinen aufgebaute, alte gotische Kirche von Haidershofen mit ihrem hoch aufragenden Keilturm im Sonnenlichte stand. Der prächtige Turm mit seinem hohen Keildach hatte an seiner Ostwand ein acht Meter hohes, sehr schönes Fresko aus dem 16. Jahrhundert, das den hl. Christophorus darstellte, von dem aber heute fast nichts mehr zu sehen ist. Haidershofen war die ehemalige Sommerresidenz der Äbte von Gleink.

In der Nähe des Wirtshauses bei der Überfuhr stand hart am Ufer der Enns eine ziemlich große, halbrunde Kapelle. In ihr befand sich eine edelgeschnittene Holzstatue des hl. Nikolaus, des Patrons der Überfuhr, der Schiffer und Wasserarbeiter. Wenn früher die Flößer an dieser Nikolaus-Kapelle vorüber fuhren, nahmen sie ihre Hüte ab und murmelten ein kurzes Gebet.

Von dieser Wasserkapelle des Hl. Nikolaus weiß die Sage folgendes zu erzählen: Wohl nicht allzuoft erreichte das Hochwasser die Kapelle. Wenn es aber doch geschah, dann ist jedesmal der Hl. Nikolaus auf dem Wasser liegend nur ruhig im Kreise um die Kapelle geschwommen, ohne von den Fluten weitergetragen worden zu sein. Niemals hat das wilde Wasser den Heiligen fortgetragen.

Im Jahre 1946 wurde der Kraftwerksbau in Staning, eine Stunde unterhalb Haidershofen, vollendet. Durch den Stau des Ennsflusses entstand ein schöner, ruhiger und tiefer See, der sogenannte "Staninger-See". In diesem See sind ersoffen: Die freundliche Gastwirtschaft bei der Überfuhr, die schönen Bäume, die Rollfähre und die Kapelle des heiligen Nikolaus.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 201
Emailzusedung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006