Die verwunschene Schloßfrau

Die Sage weiß die Zeit nicht, wann das war, daß in der Nähe des "Schlederbaches" bei Kremsmünster ein stolzes Schloß gestanden, wohl aber weiß sie, daß dieses Schloß schon vor langer. Zeit versunken ist. Die Herren von Schlederbach sollen "Landsiedler" geheißen und die Landsiedlermühle soll ihnen gehört haben. - Die Sage weiß von einer geheimnisvollen verwunschenen Schloßfrau zu erzählen.

Ein armer Taglöhner, der für sich und seiner Familie wenig Geld zu verdienen vermochte, ging des Morgens und des Abends an der Stelle vorüber, wo das Schloß einst versunken und betete immer dort einen Vaterunser; warum er dies tat, wußte er vielleicht selber nicht, doch er tats.

Eines Abends, als er müde von der Arbeit heimging, hörte und sah er noch so spät abends eine Frau am Bache, die mit dem "Schledern" (Schwemmen) ihrer gewaschenen Wäsche beschäftigt war. Tags darauf um dieselbe Zeit sah er sie wieder "schledern". Er grüßte die zwar nicht mehr junge, aber noch hübsche Frau und sprach sie an. Die Frau teilte ihm mit, daß sie eine "Verwunschene" sei; wenn aber der gute Mann ernstlich wollte, vermöchte er es, sie zu erlösen. "Wenn ich es kann", sagte der Taglöhner, "so will ich es gerne tun", denn die Frau tat ihm leid. ,,Ja, es ist gut", sprach die geheimnisvolle Frau, "höre gut zu, was ich dir jetzt sage. Du mußt einen langen Stock nehmen, darauf die geballten Hände legen, eine über die andere und das Kinn darauf stützen. Alsbald wird eine Schlange erscheinen, sich langsam um den Stock aufwärts ringeln. Sie wird einen goldenen Schlüssel Im Maul halten, den mußt du mit den Lippen erfassen und an dich ziehen. Es wird dir kein Leid geschehen; im Gegenteil, dir steht großes Glück bevor, wenn du alles, was ich dir gesagt, furchtlos zu Ende führst!"

Am nächsten Tag kam der Taglöhner mit dem Stock zu der Frau am Bache. Er tat so, wie die Frau ihm gesagt. Als die Schlange mit dem Schlüssel im Maul erschien und der Mann sie um den Stock aufwärts winden und krümmen sah, befiel ihn solcher Schreck, daß er den Stack mit der Schlange umfallen ließ und davonlief. Hinter ihm nach aber tönte lautes Schluchzen und Weinen der Schloßfrau. Wenn der Taglöhner der Mut nicht verlassen und er die Tat furchtlos zu Ende geführt hätte, so würde ihn die erlöste Schloßfrau an die Tür geführt baben, zu deren Schloß der goldene Schlüssel gepaßt hätte und hinter welcher sicher reiche Schätze verborgen waren, von denen der arme Taglöhner viel hätte bekommen können. Weil er aber den Mut nicht gehabt hatte, die Tat furchtlos zu Ende zu führen, ist die Schloßfrau nicht erlöst worden und er ein armer Teufel geblieben.

Lange darauf hat man die noch immer verwunschene Schloßfrau wieder von Zeit zu Zeit "schledern" (schwemmen) gesehen. Es hieß, wer ein Neusonntagskind ist, kann sie erlösen. Wird sie aber jetzt nicht erlöst, so muß sie im Verborgenen wieder lange warten und harren und wird erst nach vielen Jahren wieder gesehen. Denn der Mann, der sie das nächste Mal erlösen kann, ist noch nicht geboren.
Oder, wie die Sage weiter spinnt, die verwunschene Schloßfrau wird noch lange warten und leiden müssen, bis ein junges Tannenbäumlein so groß wird, daß daraus die Wiege gezimmert werden kann, in die das Knäblein gelegt wird, welches groß geworden, das nächste Mal die Schloßfrau endlich erlösen wird.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 160
Emailzusedung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006