Das "Weiße Kreuz" bei Wolfern

Eine kleine halbe Stunde außerhalb des Kirchdorfes Wolfern steht auf einer Anhöhe, über welche die Straße nach Losensteinleiten zieht, ein schlanker, schöngegliederter, steinerner Bildstock, genannt das "Weiße Kreuz". Es ist eines jener vielen Steinkreuze, die dem Wanderer im weiten hügeligen Alpenvorland auf Schritt und Tritt begegnen. Die nahezu vier Meter hohe Steinsäule trägt ein durchbrochenes Metallkreuz mit doppeltem Querbalken und an einer Seite des vierkantig gehauenen Aufsatzes, der sogenannten "Laterne" ist ein Bild angebracht, darstellend die Hl. Dreifaltigkeit.

Das Steinkreuz steht zwischen zwei alten, hohen, weithin sichtbaren Spitzpappeln, deren zum Teil abgestorbene Äste wie bleiche Totengebeine in die Lüfte ragen. Am Sockel der aus Mauthausener Granit gearbeiteten Kreuzsäule stehen gemeißelt die Buchstaben F. W. und A. M. W. und die ]ahreszah 1848; das heißt: Diese Kreuzsäule ließen die Eheleute Franz und Anna Maria Wild (ehemalige Besitzer des Ortnergutes in Unterwolfern) im Jahre 1848 errichten; aus welchem Grunde sie das Kreuz setzen ließen, ist heute nicht mehr bekannt.

An der Stelle des sagenumsponnenen Kreuzes soll einst ein Galgen gestanden sein. Unweit liegt der große Bauernhof "Mayr zu Urteil" und nebenan ein altes Häuschen, das überhaupt nur "s'Urteil" genannt wird.
Der Name dieser beiden Häuser weist auf die Gerichtsstätte hin. Wahrscheinlich befand sich auf der Anhöhe, wo heute das "Weiße Kreuz" steht, die Hochgerichtsstätte der Grundherrschaft Losensteinleiten, die, wie so viele Grundherrschaften des Landes, einst auch den Blutbaum innehatte. Manche wieder meinen, auf der Kreuzhöhe wäre der Galgenplatz der nahen "Spitzenburg" gewesen, von welcher Burg aber sonst nichts bekannt ist als der Name, der in dem heutigen Ortschaftsnamen Spitzenburg noch fortlebt. Es heißt, der Platz, auf dem das Kreuz steht, sei ein "Freiplatz"; auch lägen dort viele Tote begraben.

Früher muß ein anderes, vielleicht hölzernes Kreuz an Stelle des steinernen gestanden sein; denn die vielen Sagen, die das Kreuz umspinnen, sind viel zu alt für das immerhin noch junge Steinkreuz; sie haben sich aber auf dieses übertragen. Einmal, so weiß eine Sage zu berichten, fuhr der Teufel nachts mit einem Fuhrwerk auf der buckligen Straße von Wolfern gegen das Kreuz auf der Anhöhe. Auf seinem Wagen hatte er Häfenscherben geladen, die, weil die Straße sehr steinig und holperig war, arg schepperten. Als er zum Kreuz kam, konnte er an demselben nicht vorüber. Schreiend: "Wüstaha! Wüstaha!" mußte er links umkehren und wieder zurückfahren. - Die weite, schier ebene Kreuzhöhe wird auch genannt die "weite Moanz". Auf dieser, so wird erzählt, waren einst "neun Gader". Durch diese neun Gatter fuhr voll Wut und mit Getöse allnächtlich der Teufel, hin gegen das Kreuz, denn dieses ärgerte ihn; er konnte aber nichts ausrichten. Die Sage berichtet, daß bis zum "Weißen Kreuz" die Türken gekommen seien. Hier konnten sie plötzlich nicht mehr weiter und mußten umkehren.

Auffallend ist die Meinung der Bauern, das "Weiße Kreuz" stehe so hoch wie die Wallfahrtskirchen Sonntagsberg und Pöstlingberg, die - die eine im Osten, die andere im Westen - aus der Ferne herüberschimmern. Nun ist aber der Sonntagsberg 704, der Pöstlingberg 537 und die breite Bodenwelle, auf der unser Steinkreuz steht, nur 381 Meter hoch. Die weite Entfernung mag bewirken, daß die zwei Kirchen den Bauern nicht höher als das "WeiBe Kreuz" zu stehen scheinen. Ihre Meinung kann aber auch einen tieferen Sinn haben. - Einem alten Brauche treu, versammelten sich früher die umwohnenden Leute alljährlich am Pfingstsonntag um 3 Uhr früh beim" Weißen Kreuz", verrichteten dort ein kurzes Gebet und zogen dann, der mitgetragenen Kreuzesfahne folgend, gemeinsam und laut betend rund um die Felder, von Gott Gedeihen der Feldfrüchte erflehend.

Noch eine Begebenheit, halb Historie, halb Sage, die sich an das "WeiBe Kreuz" knüpft, sei erzählt. Als im Jahre 1848 in Österreich­Ungarn die Revolution ausgebrochen war, kam eines Tages von Losensteinleiten her ein großer Trupp Leute gezogen, darunter neun Ungarn. Zur gleichen Zeit kam von Wickendorf ein noch größerer Trupp heran. Beim "WeiBen Kreuz" stießen die beiden Trupps aufeinander. Die Leute des einen riefen: "Es lebe Kossuth!" Die Leute des anderen aber brachen in den vielstimmigen Ruf aus: "Es lebe Franz Josef!" Zum Streite kam's, heiß ging es her, Kampfgeschrei erfüllte die Luft. Die Revolutionäre, schwächer als ihre Gegner, gaben nach längerer Zeit den Kampf auf und flohen, von den Anhängern des Kaisers verfolgt, nach Steyr. Die Steyrer ließen die Revolutionäre durch. In einem Hohlweg außerhalb Steyrs aber wurden sie eingeschlossen und gefangengenommen. Zur Strafe dafür, daß sie die Revolutionäre durchließen, wurden - so erzählt nämlich die Sage - den Steyrern die Kanonen weggenommen.

Quelle: Franz Harrer, Sagen und Legenden von Steyr, mit freundlicher Genehmigung vom © Wilhelm Ennsthaler Verlag, Steyr 1980, S. 181
Emailzusedung von Norbert Steinwendner, am 11. April 2006