Die Haare der Wilden Frau

Im Volke geht nun die Sage, die Wilde Frau habe häufig auf dem flachen Steine gesponnen, und daher sollen die Kugeleindrücke und die Wellenlinien rühren. Weiters erzählt man, daß sie mit dem Widrechtshauser in Verbindung gestanden und dieser sie an jedem Samstag zur Nachtzeit besucht haben soll. Dies fiel endlich der Bäuerin auf, sie schlich ihrem Manne einmal nach und fand ihn neben der Wilden Frau in einem Stadel schlafend. Sie überlegte lange, ob sie dieselbe wecken oder sich mit einer Haarlocke begnügen sollte, und entschied sich für letzteres, schnitt ihr eine Locke ab und entfernte sich eilig. Beim Erwachen bemerkte die Wilde Frau sofort den Raub, entdeckte ihn dem Bauern und sprach zu ihm: "Wir dürfen nun nicht mehr zusammenkommen; doch gebe ich dir für deine Treue folgende Wahrzeichen: Fürs erste einen Knäuel Zwirn. Solange du abwindest und ihn sorgfältig bewahrst, wird der Faden kein Ende nehmen und du wirst reich und mächtig werden; fürs zweite trete ich mit meinem Fuß in diesen Stein; je tiefer dieser Fußstapfen wird, desto mehr nimmt dein Reichtum zu. Fürs dritte schließlich merke das: Solange ich vor dem Felsenloche im Vollmonde die Wäsche trockne, solange werde ich der Schutzgeist deines Hauses und deines Reichtums sein." Sprach's und verschwand.

Das erste Zeichen ging bald verloren, denn die Bäuerin entwendete es. Das zweite, der Frauentritt, war auch bereits dem Verschwinden nahe, so daß der Bauer schon zu verarmen begann. Aber der Eindruck wurde wieder stärker; zur Sicherung desselben vor Unwetter und Neugierde wurde ein Dach darüber gemacht. Das dritte Zeichen besteht noch heute. Bei klarem Himmel in schönen Vollmondnächten, wenn selbst im ganzen Tal nicht die Spur von einem Nebel zu finden ist, bemerkt man oben am Felsen einen dünnen weißen Streifen, den viele für Nebel halten. Dem ist aber nicht so; das ist die Wäsche der Wilden Frau.

Quelle: R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, Bd.1, Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 190 f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 188.