DAS NÄCHTLICHE HOCHAMT

Der Landarzt von Anger fuhr in einer sternenhellen Nacht von einem Krankenbesuche in Groß-Gmain nach Hause. Als er an der Kirche von St. Zeno vorüberfuhr, wollte das Pferd plötzlich nicht mehr von der Stelle. Rasch sprang er vom Wagen, um nachzusehen, ob nicht irgendein Hindernis im Wege liege. Da schlägt's eben Mitternacht, sein Blick fällt auf die Kirche, und nicht ohne Entsetzen sieht er diese hell erleuchtet. Orgelton und hellstimmiger Chorgesang tönten aus derselben ihm entgegen und klangen gar wundersam durch die stille Nacht. Das Pferd an einen Baum bindend, näherte er sich neugierig der Kirchenpforte, fand sie aber verschlossen. Da er indes um jeden Preis sehen wollte, was in der Kirche vorging, so kletterte er mühsam zu einem der Kirchenfenster empor und warf einen Blick ins Innere des Gotteshauses. Da sah er denn die ganze Kirche von vielen Hunderten von Lichtern taghell erleuchtet und den Hochaltar glänzend geschmückt mit den prächtigsten Blumen und Blüten. Drei Geistliche standen vor demselben und zelebrierten eben das Hochamt; die Betstühle aber waren dicht besetzt mit Menschen - Männern und Frauen - in den wunderlichsten Gewändern, wie man sie vor vielen hundert Jahren trug. Darunter waren wieder Hunderte von winzig kleinen Männchen, alle mit großen Barten und in schwarze Kutten gekleidet. Und alle sangen sie zu den mächtigen Klängen der Orgel so schön, daß es den Arzt wunderbar ergriff. Dabei wurde ihm plötzlich so angst und bang, daß er sich mit beiden Händen am Gitter halten mußte, um nicht herabzufallen. Eiligst verließ er seinen Standort, eilte seinem Wägelchen zu und fuhr im Galopp auf und davon. Im selben Moment schlug die Turmuhr eins, und sogleich war die Kirche wieder in Dunkelheit versunken wie zuvor.


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Als der Brunnenwärter Seebühler zu Reichenhall einmal nach St. Salvator kam, erzählte ihm die dortige Meßners-Gattin, daß sie und mehrere Nachbarsleute nachts die Kirche hell erleuchtet und voll schwarzer Männchen gesehen haben. Auch hätten sie Orgelspiel und andere Musik vernommen. Die Kirchentüre sei verschlossen gewesen, und alle Versuche, sie mit dem Schlüssel zu öffnen, wären erfolglos geblieben. Das seien die Untersberger gewesen.


Quelle: Freisauff, R. von, Salzburger Volkssagen, 2 Bde., Wien/Pest/Leipzig 1880, Bd. I, S. 68 f.