Das Lehmküglein

Einst stieg eine Sennerin vom Berge herab, um Butter und Käse ins Tal zu bringen. Da begegnete ihr das Gerlosmännlein, sprach sie an und bat sie flehentlich, ihm nur etwas Weniges zu essen zu geben, da es gar quälenden Hunger habe.

Die Sennerin, welche nicht wußte, daß sie es mit einem Wichtlein zu tun habe, nahm, von aufrichtigem Mitleide erfüllt, ihren Tragkorb herab und gab dem kleinen Männlein zu essen, so lange es Lust und Hunger hatte. Als es endlich satt war, schied das Männlein, reichte aber früher noch der gutherzigen Dirne zum Danke ein unscheinbares Lehmpätzlein mit den Worten: "Das ist mein ganzes Um und Auf, mehr habe ich nicht!" Die Sennerin lachte herzlich, steckte aber das erhaltene Lehmküglein, weil es so schön glatt und rund war, ein und verfolgte ihren Weg weiter ins Tal hinab. Als sie wieder nach Hause gekommen war, hatte sie dieses kleine Abenteuer bereits vergessen. Einige Zeit darauf suchte sie nach etwas und kam dabei auch über die Tasche jenes Rockes, den sie bei dem Zusammentreffen mit dem Männlein getragen hatte. Sie leerte dieselbe aus, und siehe da, da lag zu ihrem freudigen Erstaunen unter einigen Kirchenhellern, einem Fingerhut, Brotkrumen, Salz- und Kümmelkörnern, einem kleinen Knäuel Zwirn und einem alten grünen Benedictuspfennig ein großes, schweres Goldstück: Das Lehmküglein, an das sie sich sofort erinnerte, hatte sich in pures, lauteres Gold verwandelt.

Als sie es darauf am nächsten Sonntag zu einem ehrlichen Goldschmied nach Innsbruck trug und daselbst zu Geld machte, erhielt sie dafür zwanzig blanke Kaisergulden oder sechzig Zwanziger und noch extra einen angehäkelten, dünnen goldenen Gnadenpfennig mit dem Bilde ihrer heiligen Schutzpatronin. Da dankte die Dirne im Herzen dem kleinen Bergmännlein für seine Güte, denn sie fühlte sich mit einem Male so überglücklich und blieb es auch bis an ihres Lebens Ende.

Quelle. R. von Freisauff, Salzburger Volkssagen, 2 Bde., Wien/Pest/Leipzig 1880, S. 219 f, zit. nach Leander Petzold, Sagen aus Salzburg, München 1993, S. 235.