DAS LOFERER FRÄULEIN


2. Sage


In Lofer lebte eine arme Witwe mit einem einzigen Kinde, einem Mädchen; ihre ganze Nahrungsquelle war eine Kuh.. und diese stürzte von einem Felsen und kam um. In ihrem Jammer um ihr letztes, ihr entrissenes Gut gedachte die Witwe an das Loferer Fräulein, von dem die Rede ging, daß es allen wahrhaft bedürftigen, aber auch wahrhaft guten Menschen sich hilfreich erzeige, und faßte den Entschluß, die Hilfe dieses wunderbaren, in eine nahe Berghöhle verwunschenen Fräuleins auch in Anspruch zu nehmen. Sie teilte diesen Entschluß ihrem Seelsorger mit, der denselben mißbilligte und ihr die Gefahren vormalte, welche dort drohten: der Wildbach, der feurige Hund, die Tücke aller Dämonen. Aber die Witwe wollte sich nicht abwendig machen lassen, und so gab ihr denn der Pfarrer den Rat, daß sie sich durch den Empfang der heiligen Sakramente reinigen und läutern, ihr Kind mitnehmen und in Gottes Namen gehen solle.

Sie kam mit ihrem Kinde, welches nur erst zwei Jahre zählte, fand den reißenden Wildbach, über den ein Steg aus feinstem Sand gelegt war, der beim Darauftreten zu brechen drohte, aber doch nicht brach, als ihn die Witwe beschritt. Als der Steg überschritten war, gelangte die Witwe an einen Felsen, auf diesem saß das Fräulein und neben ihr der Hund, der laut bellte, aber angekettet lag. Nur den, der mit einer Todsünde auf dem Gewissen sich zu nahen wagte, durfte der Hund zerreißen.

Die Frau grüßte mit demutsvoller Verneigung das Fräulein, und dieses sagte: "Was Guts?" Die Witwe hob ihr Kind empor, das seine Händchen faltete, und sprach: "I tät recht schön um etwas bitten!"

"So komm herein in mein Haus!" entgegnete die Jungfrau, schlug mit einem ehernen Stabe, der von edlem Rost grün schimmerte, an den Felsen, drehte sich selbst dreimal um, wobei sie immer größer zu wachsen schien, und schritt dann der Witwe durch eine Öffnung in dem Felsen, die sich alsbald gebildet hatte, voran. Innen lag ein schönes Schloß auf einer grünen Wiese, die mit ungewöhnlichen Blumen und Bäumen bewachsen und auch durchflossen war von einem silberhellen Bache. Das Schloß hatte sieben Türme, und auf jedem derselben strahlte ein großer Karfunkel, so daß die Umgebung hell erleuchtet war, und der Glanz blendete fast die verwunderte Witwe, welche von dem Fräulein jetzt gefragt wurde, was sie wünsche und wieviel sie wolle. Die Witwe begehrte nicht mehr als nur so viel, daß sie sich wieder ein Kühlein anschaffen könne, und das Fräulein lobte diese Bescheidenheit, machte aber noch zur Bedingung, daß die Witwe ihr auf drei Jahre ihr Kind überlasse. Es solle diesem ganz gut ergehen. Das war freilich ein harter Punkt, doch willigte endlich die Frau ein, ging ohne ihr Kind zurück, kaufte sich von dem empfangenen Geld eine Kuh und lebte nun die drei Jahre still vor sich hin, nährte aber beständig die Sehnsucht nach ihrem Kinde, und als die drei Jahre herum waren, konnte sie kaum die Zeit erwarten, ihr Kind wieder zu holen. Die Witwe empfing, wie früher, die heiligen Sakramente, fand alles wie beim ersten Male, und da das Fräulein fragte, was sie wolle, so antwortete sie: "Gar nichts, als mein Kind." Mit trauriger Miene gab das Fräulein das Kind zurück, das nun fünf Jahre alt und sehr schön geworden war, und zugleich so viel Geld, daß beide genug zu leben hatten. Das Kind wuchs zu einem schönen Mädchen heran, blieb aber stets verschlossen und hat sich nie verheiratet. Am liebsten war es allein, und es war, als läge ein Schleier über sein Leben gebreitet.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 10