Das Venedigermandl

Venedigermandl nennen die Leute diese Gegend einen kleinen, kaum handlangen Bergkobold, der sich überall dort einfindet, wo der Berg Erzadern führt oder wo ein Schatz verborgen liegt. Die Wurzelgraber haben oft, wenn sie mit dem Spaten in die Erde stachen, ein klägliches Schreien gehört - dann hatten sie einen Venediger, der eine Erzader oder gar verborgene Edelsteinen hütete, verletzt.

So grub auch einstmals der Binder Seppl an dem steil abfallenden Abhang unter dem Gletscher der Schlapperebene nach Wurzeln, als er plötzlich ein kleines grauen Männlein erblickte. "Ha," dachte der Seppl, "da habe ich endlich einen "Venediger" gefangen", packte das kleine Männlein, nahm es auf seinen Arm und liebkost es. Der "Venediger" ließ sich dies gern gefallen, denn die Menschenwärme der festen, schwieligen Bauernfaust tat ihm gut. Viele Fragen hatte das Männlein an den fröhlich lachenden Seppl, der ihm vom Vieh und vom Heim, von seinen "Geitlingen", von seinem neuen Hausstand erzählen mußte und auch vom Treiben der Leute unten um Dorf. So plauderten sie schon eine ganze Weile und das Venedigermandl wurde immer zutraulicher. Nun hielt der Binder Seppl seine Zeit für gekommen und frug auch mancherlei, wo wohl die schönsten Wurzeln stünden, die "Goldäpfel" und der Enzian. Leutselig gab der kleine Wicht dem Seppl machen wertvollen Wink. Als er aber wissen wollte, an welcher Stelle des Gebirges Gold- und Silbererze zu finden wären, da gebärdete sich der kleine Wicht wie ein wildes Tier, stieß den Seppl vor die Brust, sprang ihm vom Arm und verschwand wie der Wind.

Wie von Geisterhänden wurden ein paar große Felsstücke nach dem Binder Seppl geschleudert und er hatte knappe Not, daß er der Wut des Kobolds entkam.

Quelle: Adrian Karl, Alte Sagen aus dem Salzburger Land, Wien, Zell am See, St. Gallen, 1948, S. 81-82