DER EISTOD AUF DER SCHLAPPEREBENE

Hoch oben am Mallnitzer Tauern, dem Grenzgebiet gegen Kärnten, breitet sich die Hochgebirgseinöde der Schlapperebene aus.

Dort, wo heute Felstrümmer den Boden decken und die Gletscher nahe sind, standen einst im Schatten prächtiger Zirbelbäume die Berghäuser. Die Knappen führten in ihnen ein gar üppiges und übermütiges Leben. Vor etwa 50 Jahren entdeckte man erst wieder in dieser Gegend den aus dem Eis aufragenden Schornstein eines Knappenhauses, und ein Mann, der sich an einem Seil in die Tiefe ließ, soll eine noch ganz gut erhaltene Küche vorgefunden haben, während die übrigen Räume völlig verschüttet waren. Mit diesem Knappenbau auf der Schlapperebene verbindet sich folgende schaurige Sage:

An einem Feierabend waren die Bergknappen bei Wein und Würfelspiel in ihrer behaglichen Behausung versammelt, als donnernd eine Lawine niederfuhr und alles unter sich begrub. Ein schwerer Schneesturm folgte nach und brauste tagelang mit großer Gewalt. An Rettung von außen war nicht zu denken, zudem wähnte man die zwölf Bergknappen längst tot.

Doch das Dach hatte dem furchtbaren Druck standgehalten, und so saßen die zwölf Verschütteten m der schaurigen Nacht, das Gespenst des Hungertodes vor Augen, denn die geringen Vorräte waren bald aufgezehrt.

Da machte der Hutmann *) einen verzweifelten Vorschlag: Sie sollten um ihr Leben würfeln, und wen das Los treffe, der sollte den andern zur Speise dienen.

Erst lehnten die Knappen diesen Plan voll Grauen ab, doch als wiederum zwei Tage vergangen waren und sie sich vor Hunger kaum mehr auf den Beinen zu halten vermochten, folgten sie dem Rat ihres Kameraden.

Der junge Bergschmied hatte das Unglück, die niederste Augenzahl zu werfen! Totenbleich starrte er auf die Unglückswürfel, und die gierigen Blicke seiner Gefährten ließen ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn treten.

In seiner Not erbat er sich eine einzige Stunde Gnadenfrist, damit er seine Seele Gott empfehlen könne.

Er wankte hinaus in die Grube, deren Eingang gleich dem Haus unter den Lawinenmassen begraben lag, warf sich auf die Knie und sprach sein Sterbegebet.

Schon wollte er sich erheben und zurückgehen, um sich seinen Kameraden als Schlachtopfer zu stellen, da vernahm er vom Schacht her plötzlich das feine Rieseln einer Quelle. Da kam ihm ein rettender Gedanke! Fieberhaft begann er nach dem Wässerlein zu scharren und zu wühlen, denn wo dieses rann, mußte es auch einen Ausweg geben!

Tiefer und tiefer bohrte er sich hinein in die Kluft; er spürte das eiskalte Wasser nicht, das ihn fast erstarren ließ, er achtete kaum, daß er in der qualvollen Enge nur mühsam zu atmen vermochte.

Er grub mit letzten Kräften, wand sich gleich einer Schlange, und siehe - plötzlich ein Schimmer - das Tageslicht, Rettung, Leben!

Der Bergschmied fiel auf dem wüsten Lawinenfeld auf die Knie, hob die Hände gegen den Himmel und dankte seinem Schöpfer. Dann eilte er, so schnell er nur konnte, zu Tal, um Hilfe für seine Kameraden herbeizuholen.

Eine Schar beherzter Knappen eilte sogleich auf den Berg und begann zu graben. Nach Tagen erreichten sie die Eingeschlossenen. Doch die Hilfe kam zu spät, sie waren allesamt den Hungertod gestorben. -

Ähnliches erzählt man sich von der Knappenstube im Ritterkar in der Rauris. Dort soll der Bergschmied aber durch seine Flucht den Verfolgern zugleich den Weg ins Leben und in die Freiheit gewiesen haben.

In der Kirche zu Rauris stehen heute noch zwei neun Meter hohe Stangen, die bezeichnen sollen, wie hoch damals der Schnee gelegen ist. Sie sind ihrer ganzen Länge nach mit Blattgeranke bemalt, und jede ist mit einem Bergwerkswappen geziert. An hohen Festtagen werden auf die „Schneestangen" brennende Kerzen gesteckt, und starke Männer halten diese seltsamen Riesenleuchter während des ganzen Gottesdienstes.

In Wirklichkeit dürfte es sich dabei um sogenannte Prang- oder Reifstangen handeln, die früher in vielen Gebirgsorten im Glauben an ihren Schutz vor sommerlichen Schneefällen aufgestellt wurden und wie sie in Zederhaus im Lungau, in Muhr und in abgeänderter Form unter anderem auch noch in Hüttau, Bischofshofen und Werfenweng zu sehen sind.

*) Alte bergmännische Bezeichnung für denjenigen, der die Aufgabe hat, die Stollen und Schächte auf ihre Betriebssicherheit hin zu prüfen („Auf der Hut sein").

Quelle: Josef Brettenthaler, Das große Salzburger Sagenbuch, Krispl 1994, S. 169.